Experte über Bedeutung der Glocken heute und zu DDR-Zeiten

Glocken als Symbol der Freiheit

"Wenn Glocken nicht mehr läuten dürfen, ist es um den Menschen schlecht bestellt, dann gilt die Menschlichkeit nicht mehr." Kurt Kramer erzählt, wie die Nazis Zehntausende Glocken zertrümmerten und einschmolzen; wie die DDR-Staatsführung Druck auf die Kirchengemeinden ausübte und das Läuten verbot. "Die wollten das Zeichen von religiöser Gemeinschaft zerstören", sagt Deutschlands führender Glockenfachmann.

Autor/in:
Volker Hasenauer
 (DR)

20 Jahre nach der Wende erinnert sich Kramer, wie schwierig das Retten und Sanieren von Kirchenglocken in der damaligen DDR war. Auf die Einreisegenehmigung wartete er Monate, dann wurde er auf Schritt und Tritt von der Stasi überwacht, Fachfirmen und Spezialmaterialien für die Reparatur gab es nicht. «Wir mussten viel improvisieren», sagt er.

Kirchenglocken sind Kramers Leben, sein Beruf, seine Leidenschaft. Er kann am Klang erkennen, ob eine Glocke Schaden genommen hat, «ob es ihr gut oder schlecht geht», wie er es formuliert. Der Experte leitete ein Forschungsprojekt, um herauszufinden, wie kostbare Glocken am schonendsten geläutet werden können. Den Vorsitz im «Beratungsausschuss für das Deutsche Glockenwesen» hat der 66-Jährige mittlerweile abgegeben, sein fachlicher Rat ist weiterhin bundesweit gefragt. So prüfte er die neuen Glocken der Dresdner Frauenkirche und war vor Ort, als der Hamburger Michel eine neue Glocke erhielt.
Von Spitzeln umgeben
Den Fall des Eisernen Vorhangs hat Kramer vor Ort miterlebt: Am Tag als die Mauer fiel, unterrichtete er in Ostberlin gerade DDR-Nachwuchsexperten. «Ganz plötzlich verschwanden einige Zuhörer - Stasileute, wie ich dann erfuhr», erzählt Kramer. Er war von Spitzeln umgeben, auch ein enger Freund war darunter. «Das hat mich sehr getroffen.»

Erstmals kam Kramer 1985 auf Einladung des Erfurter Bischofs Joachim Wanke in die DDR. Eine der berühmtesten Glocken im Osten, die Gloriosa im Erfurter Dom war gesprungen. Und vor Ort gab es niemanden, der den Schaden begutachten, geschweige reparieren konnte. Trotz widriger Umstände und bürokratischer Hürden der DDR-Führung gelang schließlich die Reparatur und führte zu vielen Folgeaufträgen im Osten. Eindrücklicher Beleg ist Kramers bis auf die letzte Seite vollgestempelter Reisepass.
Aufnahmen der Glocken Europas
Und endlich war denkbar geworden, worauf Kramer kaum mehr zu hoffen gewagt hatte. Er konnte die Recherchen und Tonaufnahmen für sein Opus Magnum abschließen, eine Gesamtübersicht mit Aufnahmen der Glocken Europas. «Den Westen hatte ich längst auf Band, nun konnte ich in den Osten.» Also kletterte er selbst bei minus 20 Grad auf Türme und Kirchendächer, um die besten Aufnahmeorte zu finden. Und ließ sich durch Einwände von Polizei und Stasi nicht entmutigen.

In Ungarn bannte er die älteste läutbare Bronzeglocke Europas auf Band: ein an eine Kuhglocke erinnerndes feines Bimmeln, das so schon vor 1.200 Jahren zu hören war. In Prag schlich er sich als Bauarbeiter und mit versteckter Kamera in den Glockenstuhl des Veitsdoms. «Aufnahmen konnte ich dennoch nicht machen, die schmuggelte jemand für mich aus dem Archiv des Tschechischen Rundfunks». 1988 brachte er seine Glockengeschichte Europas auf Kassette mit Begleitband heraus. Auf dieses Standardwerk ist er bis heute stolz.

Nach der Wende organisierte Kramer zahlreiche Glockenrestaurierungen im Osten mit. Und bis heute gibt es noch großen Sanierungsbedarf. «Aber wir haben mittlerweile genügend ostdeutschen Expertennachwuchs, der sich darum kümmern wird.»

An seinem Karlsruher Privatschreibtisch kann sich der Fachmann heute die Projekte aussuchen, an denen er Freude hat. In Südtirol hilft er beim Ausbau von Ausbildungsstrukturen für Glockensachverständige. Für das Schillerjahr hat er ein Theaterstück rund um das «Lied von der Glocke» geschrieben, das in Karlsruhe aufgeführt wird. Und: Demnächst will er mit einem Bilderbuch Kinder für die Faszination der Glocke gewinnen.