Exilpolitiker zur kritischen Lage in Syrien

"Es gibt ethnische Säuberungen"

Aleppo ist zum Schlüsselpunkt des Krieges in Syrien geworden. Die Stadt ist von syrischen Regierungstruppen eingekesselt. Den Menschen dort droht eine humanitäre Katastrophe, beklagt der Exilpolitiker Dr. Sadiq Al-Moussllie im domradio.de-Gespräch.

Trümmer in Aleppo / © Zouhir Al Shimale (dpa)
Trümmer in Aleppo / © Zouhir Al Shimale ( dpa )

domradio.de: Was wissen Sie über die Lage in Aleppo? 

Dr. Sadiqu Al-Mousllie (Mitglied des syrischen Nationalrates): Wir wissen, dass die Oppositionsinitiative vor drei Tagen angefangen hat, die Belagerung aufzuheben und zu durchbrechen. Die Rebellen haben unerwarteter Weise für das Regime und seine Alliierten, in diesem Fall auch Russland und seine Milizen, von Süden und auch von Westen her angefangen, anzugreifen. Dies geschah nachdem das Regime den Versorgungsweg von der Castello-Straße aus dem nördlichen Teil Aleppos abgeschnitten hatte. Natürlich droht eine große humanitäre Katastrophe innerhalb Aleppos, denn die Luftangriffe seitens der Russen, aber auch des Regimes, gehen weiter. Und das geht soweit, dass die Zivilisten in Aleppo zum Beispiel Reifen verbrennen, damit sie Schutz suchen können und damit diese Luftangriffe nicht ihre Ziele erreichen beziehungsweise sie auch nicht einfach wild angegriffen werden.

domradio.de: Das heißt die Zivilisten - sprich die Bürger der Stadt - befinden sich in so einer Art "Geiselhaft"? 

Al-Mousllie: Das würde ich nicht so sagen. Die Zivilisten in Aleppo, in den Teilen, in denen die Oppositionen sind, sind froh, wenn die Opposition da ist. Bei dem, was sie bisher von dem Regime und seinen Milizen aus dem Libanon, aber auch von den irakischen und iranischen Milizen, gesehen haben, die sehr gezielt gegen die Bevölkerung vorgehen, kann man in Aleppo und auch in der Umgebung regelrecht von einer ethnische Säuberung sprechen. Man möchte bestimmte Orte schaffen, an denen ausschließlich Regimebefürworter und nur wenige Regimegegner sind. Deswegen gehen dann die Truppen so vor, dass sie die Leute sozusagen "rausekeln", indem sie einfach ihr Leben unmöglich machen. Dazu kommen noch die Angriffe aus der Luft, sei es von dem russischen oder von dem syrischen Regime.

domradio.de: Von wo könnte in dieser so auswegslos scheinenden Situation überhaupt noch Hilfe kommen?  

Al-Mousllie: Die Hilfe muss seitens der Weltgemeinschaft jetzt zumindest vorbereitet werden, weil ich nicht glaube, dass die Kämpfe in Aleppo sehr lange dauern. Den Berichten zufolge meldeten die Oppositionsgruppen, dass es sehr bald so sein wird, dass die Belagerung aufgehoben wird, dass das Regime nicht mehr komplett Aleppo belagern wird. Spätestens dann brauchen wir Medikamente, Nahrungsmittel, Kindermilch. Eben all diese Sachen, die man sonst immer braucht, zu denen man jetzt aber keinen Zugriff hat. Damit muss man die Zivilbevölkerung versorgen, denn meiner Einschätzung und den Leuten in Aleppo nach ist es so, dass sie es ablehnen, rauszugehen. Sie wollen auch nicht rausgehen, weil sie auch schlechte Erfahrungen gemacht haben, beziehungsweise gehört haben, was die Flüchtlinge an der syrisch-türkischen Grenze oder in Europa erleben und dann sagen sie: "Da bleiben wir lieber in Aleppo und versuchen irgendwie dort zu überleben. Es ist besser, als mein Haus zu verlassen."

domradio.de: Ende August sollte es Friedensverhandlungen geben, die sollen wieder aufgenommen werden. Bei allem was wir jetzt aus Aleppo hören, klingt das doch erstmal wie eine Farce - oder?

Al-Mousllie: Es ist schon unmöglich, sich das vorzustellen. Man hat sich von der Intervention der Russen aus dem vergangenen Jahr erhofft, dass doch Friedensverhandlungen wirklich erfolgreich sind. Manche sagen, dadurch sind überhaupt Friedensverhandlungen möglich. Ich glaube, wir müssen uns hier nicht in die eigene Tasche lügen, die Verhandlungen machen wir nicht um des Verhandlungswillens, sondern wir wollen auch Ergebnisse erreichen. Wenn wir durch Verhandlungen nichts erreichen, dann sind die Verhandlungen in der Tat eine Farce.

Wir haben die UN-Resolution 22/54. Da wurde nichts davon umgesetzt, wie zum Beispiel die Verlagerung von Orten in Vororte von Damaskus oder in Madaja. Diese Orte sind nach wie vor in einer Art und Weise belagert, dass die Bevölkerung nicht "abstirbt", mehr aber auch nicht. Das heißt, die Fassbomben fallen noch auf die Menschen. Die Leute werden drangsaliert, sie dürfen nicht rein oder raus. Also diese UN-Resolution, ich sage mal so: Assad und seine Alliierten pfeifen auf die Resolution und dadurch ist Verhandlungsfrieden unter diesen Umständen nicht machbar. Aber was machbar wäre, wäre auf jeden Fall, dass man die Opposition so stärkt, dass sie dann auf dem Boden dann etwas mehr gewinnen kann und dann natürlich Druck auf das Regime und auf den Iran ausübt. Das betone ich besonders, weil der Iran hier eine große Rolle spielt, denn das Land zwingt nämlich Assad noch eine Resolution beziehungsweise eine Lösung - zum Beispiel eine Übergangsregierung nach den Genfer Verhandlungen, wie wir das 2012 ursprünglich vereinbart haben - zu schaffen.

Das Gespräch führte Silvia Ochlast.


Quelle:
DR