Ex-Caritas-Direktor wirft Putin Genozid vor

"Hat jetzt schon begonnen"

Der Krieg schweißt die Menschen in der Ukraine zusammen, berichtet der ehemalige ukrainische Caritas-Chef Andrij Waskowicz. Das sei auch nötig, denn würde Russland das Land okkupieren, müsse man sich auf "Putins Endlösung" einstellen.

Zerstörung in Mariupol / © Evgeniy Maloletka (dpa)
Zerstörung in Mariupol / © Evgeniy Maloletka ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie erleben Sie gegenwärtig die Situation in der Ukraine?

Andrij Waskowicz (Langjähriger Direktor der Caritas Ukraine): Die Situation in der Ukraine ist schrecklich. Wir sind im 14. Tag des Krieges in der Ukraine, und wir haben einen Krieg erlebt in diesen 14 Tagen, einen wuchtigen, brutalen Krieg. Einen brutalen Angriff auf die Ukraine. Und wir waren am stärksten erschüttert, wie in der Ukraine die Städte beschossen werden, wie die Zivilbevölkerung beschossen wird, wie Wohnhäuser zerstört werden, wie die Infrastruktur zerstört wird in den Städten. Ich habe gerade einen Bericht gelesen über die Stadt Mariupol, in der unheimlich viele Häuser zerstört wurden und wo die Leichen auf der Straße liegen. Das ist die Situation am 14. Tag des Krieges in der Ukraine.

Und die Menschen fliehen natürlich massenweise. Sie fliehen zur polnischen Grenze, sie fliehen in die Westukraine und versuchen ins Ausland zu kommen. Nach letzten Meldungen sind schon über 1,5 Millionen Menschen ins Ausland geflohen. Wir wissen allerdings nicht, denn es gibt keine Statistik darüber, wie viele Menschen ihre Heimatorte verlassen mussten und in der Ukraine als Binnenflüchtlinge unterwegs sind. Es müssen auch Millionen sein. Die Erwartungen der Flüchtlingswelle gehen in die vielen Millionen. Man spricht von sieben bis zehn Millionen Flüchtlinge, die in Nachbarländer der Ukraine kommen könnten oder auch weiter in andere Länder der Europäischen Union.

DOMRADIO.DE: Sie sind noch in Kontakt mit Ihren Landsleuten. Was hören Sie von denen?

Waskowicz: Ich bin in Kontakt mit den Landsleuten. Ich telefoniere jeden Morgen, jeden Tag mehrmals mit meinen früheren Mitarbeitern in der Caritas Ukraine. Die Caritas Ukraine macht eine wahnsinnige Arbeit an vielen Standorten. Sie hat sieben Lagerhallen eröffnet, wo humanitäre Hilfe geleistet wird und Güter umgeladen werden, damit sie in alle Landesteile gebracht werden. Sie berichten natürlich über diese schrecklichen Geschehnisse, über die Bombardierungen der Städte. Aber sie berichten auch über die enorme Solidarität der ukrainischen Bevölkerung, über die Wehrbereitschaft der Menschen, ihre Freiheit zu verteidigen. Über die Bereitschaft der Menschen, ihre Familien, ihre Häuser, ihre Straßen, ihre Städte und ihr Land zu verteidigen. Sie sind bereit, sich zusammenzuschließen. In der Ukraine hat man mittlerweile alle politischen Differenzen vergessen und über Bord geworfen, damit man zusammenstehen kann. Denn den Leuten ist bewusst, dass wenn sie eingenommen werden, wenn dieses Land okkupiert und annektiert wird, es dort einen Genozid des ukrainischen Volkes gibt, der eigentlich jetzt schon begonnen hat. Denn Putin hat ja gesagt: Es gibt kein ukrainisches Volk, es soll es nicht geben. Und Putin verfolgt eine Politik, die darauf abzielt, eine "Endlösung" – nach seinen Überlegungen – der ukrainischen Frage herbeizuführen. Dass es keine Ukrainer geben wird. Der Begriff, den er benutzt, ist "Entnazifizierung" der Ukraine.

Andrij Waskowicz

"Das bedeutet, jeder Mensch in der Ukraine, der eine nationale ukrainische Identität hat, sollte liquidiert werden."

DOMRADIO.DE: Wie kann denn der Überlebenskampf der Menschen vor Ort, die bleiben wollen, die nicht fliehen, wirksam unterstützt werden?

Waskowicz: Vor allen Dingen ist heute humanitäre Hilfe notwendig und sie wird auch geleistet. Sie müsste auch weiterhin geleistet werden. Die Not der Menschen ist sehr, sehr groß. Ich habe soeben einen Anruf von einer ukrainischen Parlamentsabgeordneten bekommen, die gefragt hat: Kann die Caritas uns Decken besorgen für die Metrostationen, wo die Menschen sich vor den Bomben schützen. Dort fehlt es an Decken, dort fehlt es an Heizung, Geräten oder an warmen Mahlzeiten, um die Menschen dort zu versorgen.

Also das sind Sachen, die heute notwendig sind, aber auch die organisiert werden können und auch bereits organisiert werden. Man ist sich auch bewusst über die Solidarität der Menschen im Westen mit den Menschen in der Ukraine. Man sieht es mit großer Dankbarkeit. Man sieht aber allerdings auch, dass politisch und militärisch die Ukraine nicht ausreichend geschützt wird. Wo die Menschen eigentlich bedroht werden, wo unschuldige Leben bedroht sind, erwartet man eigentlich eine größere Unterstützung des Westens. Man sagt, dass die Ukraine heute bereit ist zu kämpfen für Freiheit, nicht nur für die eigene Freiheit, sondern für die Freiheit Europas, für demokratische Werte in Europa. Und man sieht den Westen in diesem Bereich noch zögern.

Das Interview führte Ingo Brüggenjürgen.

Spenden für Opfer des Krieges in der Ukraine

Viele Menschen möchten den Opfern des Krieges in der Ukraine möglichst konkret helfen. Fachleute halten Geldspenden beinahe immer für den besseren Weg als Sachspenden. DOMRADIO.DE hat eine Liste mit Spendenmöglichkeiten erstellt.

Wer einen Geldbetrag spenden möchte, sollte diesen am besten einer oder maximal zwei Organisationen zukommen lassen. Das mindert den Werbe- und Verwaltungsaufwand der Organisationen.

DOMRADIO.DE empfiehlt Spenden an folgende Hilfsorganisationen:

 

Caritas International

Hilfsbereitschaft für die Ukraine / © Halfpoint (shutterstock)
Hilfsbereitschaft für die Ukraine / © Halfpoint ( shutterstock )
Quelle:
DR
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