Ex-Bischof von Arabien zieht Bilanz nach 19 Jahren im Amt

"Ich bin dankbar für diese Jahre"

Die Entführung von Pater Tom Uzhunnalil und die Ermordung von vier Ordensfrauen waren ein Schock für den emeritierten Bischof Paul Hinder. Im Interview spricht er über die quälende Ungewissheit, seine Verantwortung und zieht Bilanz.

Paul Hinder, Administrator des apostolischen Vikariats von Nordarabien, und Papst Franziskus beim Treffen am 6. November 2022 in Manama (Bahrain). / © Vatican Media/Romano Siciliani (KNA)
Paul Hinder, Administrator des apostolischen Vikariats von Nordarabien, und Papst Franziskus beim Treffen am 6. November 2022 in Manama (Bahrain). / © Vatican Media/Romano Siciliani ( KNA )

DOMRADIO.DE: Was ist die größte Herausforderung für die Christen, die Ihnen in Arabien anvertraut sind?

Bischof Paul Hinder OFMCap (Kapuziner und emeritierter Apostolischer Vikar für Arabien): Die größte Herausforderung bleibt, in einem islamischen Umfeld, einer Welt, in der die Christen in der Regel nur auf Zeit leben, den Glauben zu bewahren und zu praktizieren. Die Bedingungen sind je nach Land sehr unterschiedlich: In einigen Ländern geht das recht gut, in anderen weniger. Aber das Gesamtbild ist zufriedenstellend.

DOMRADIO.DE: Sie erfahren also auch in der arabischen Dispora einen lebendigen Glauben?

Bischof Paul Hinder / © Gregory A. Shemitz/CNS photo (KNA)
Bischof Paul Hinder / © Gregory A. Shemitz/CNS photo ( KNA )

Hinder: Definitiv. In den Vereinigten Arabischen Emiraten haben wir neun Pfarreien und auch neun Kirchengebäude aufgebaut. Im Jemen ist es wegen des Bürgerkrieges zwischen Regierung und islamistischen Huthi-Rebellen seit 2015 schwieriger.

Es gibt aber Kirchen in Kuwait, in Bahrain, eine riesige Kirche für die Katholiken in Katar. In Saudi-Arabien gibt es zwar keine Kirchen - aber es gibt christliche Gemeinden.

DOMRADIO.DE: Was zeichnet den Glauben der Menschen in all diesen Ländern aus?

Bischof Paul Hinder (Kapuziner und emeritierter Apostolischer Vikar für Arabien)

"Die Katholiken hier glauben mit einer gewissen Selbstverständlichkeit. Das hat mich von Anfang an beeindruckt."

Hinder: Was mich beeindruckt hat, ist deren Vertrauen und ihre Frömmigkeit. Die Leute kommen zu den Gottesdiensten und sie kommen gerne. Nach Covid sind unsere Kirchen wieder voll. Die Katholiken hier glauben mit einer gewissen Selbstverständlichkeit. Das hat mich von Anfang an beeindruckt.

Die Leute kommen aus verschiedenen Weltgegenden in unsere Gemeinden. Sie sprechen verschiedene Sprachen, haben verschiedene religiöse Traditionen. Und doch entsteht ein Zusammengehörigkeitsgefühl. Dass das klappt, ist nicht immer selbstverständlich.

Natürlich gibt es Spannungen und Konflikte, wie es sie überall auf der Welt gibt, wo Menschen zusammenleben. Aber im Großen und Ganzen stelle ich fest: Hier wird Katholizität konkret gelebt.

DOMRADIO.DE: In der Vergangenheit gab es in den arabischen Ländern immer wieder Angriffe auf Christen. Gerade Missionare – protestantische und katholische – hat es getroffen. Gehört das der Vergangenheit an?

Hinder: Man kann sich nie sicher sein, was andere im Schilde führen. Persönlich spüre ich keine Gefahr. Aber es gab sie, diese Angriffe: Im Jahr 1998 etwa sind drei Schwestern in Al-Hudaida ermordet worden. Und dann 2016 der wohl bekannteste Fall: Pater Tom Uzhunnalil ist in Aden entführt worden.

Beim gleichen Angriff sind vier Mutter-Teresa-Schwestern umgebracht worden. Und nicht nur sie, sondern auch deren Angestellte, von denen die meisten Muslime waren. Es gibt also sowohl das Martyrium von Missionaren, aber auch das Martyrium von Muslimen allein wegen ihrer Verbindung zu uns Katholiken.

DOMRADIO.DE: Damals, als das Kloster der Mutter-Teresa-Schwestern überfallen wurde, waren Sie als zuständiger Bischof in der Verantwortung. Was waren Ihre ersten Gedanken, als Sie von dem Anschlag gehört haben?

Hinder: Das war ein Schock. Ich war zu dem Zeitpunkt für Exerzitien an einem abgelegenen Ort im Tessin in der Schweiz. Es war schwierig, mich zu erreichen. Aber als der Bericht dann kam, war ich erschüttert. Ich konnte ja nicht einmal unmittelbar dorthin reisen. Vermutlich hätte das auch nicht viel gebracht.

Über telefonische Verbindungen zu einem Scheich in den Vereinigten Arabischen Emiraten konnte ich dann die Evakuierung der überlebenden Schwester arrangieren. Sie, die einzige Überlebende, habe ich dann einige Tage später persönlich in Abu Dhabi getroffen.

DOMRADIO.DE: Wie haben Sie diese Begegnung erlebt?

Hinder: Das Erstaunliche war, dass diese Schwester mir sofort sagte: "Ich möchte so bald wie möglich wieder zurück." Das hat mich sehr beeindruckt. Natürlich konnte ich ihr diesen Wunsch nicht erfüllen. Sie ist auch bis heute nicht in den Jemen zurückgekehrt und lebt in einem anderen Land.

DOMRADIO.DE: Es gab aber noch einen weiteren Überlebenden.

Bischof Paul Hinder (Kapuziner und emeritierter Apostolischer Vikar für Arabien)

"Ich wusste nicht, ob er noch am Leben war oder tot. Wenn er lebte, wie lange noch? Was würde man mit ihm anstellen? Diese Ungewissheit war unheimlich schwer für mich."

Hinder: Ja, den Salesianerpater Tom Uzhunnalil. Seine Entführung war in einem gewissen Sinne noch schmerzhafter für mich. Bei den Schwestern hatte ich Klarheit. Eine von ihnen hatte überlebt, die anderen vier waren tot. Sie sind zu Märtyrerinnen geworden.

Aber Pater Tom? Ich wusste nicht, ob er noch am Leben war oder tot. Wenn er lebte, wie lange noch? Was würde man mit ihm anstellen? Diese Ungewissheit war unheimlich schwer für mich.

DOMRADIO.DE: Haben Sie sich Vorwürfe gemacht?

Hinder: Natürlich. In einem gewissen Sinn war ich schließlich verantwortlich. Ich hatte Pater Tom zuvor erlaubt, in den Jemen zurückzukommen. Er hatte vorher schon einige Jahre im Jemen gearbeitet und sollte nun für seinen Orden eine Studieneinrichtung in Indien leiten.

Pater Tom hätte also nicht zurückkommen müssen. Weder sein Oberer noch ich haben ihn gedrängt. Aber als er vom Leid der Menschen im Bürgerkrieg hörte, hat er sich aus Pflichtgefühl selbst angeboten und wollte wieder ins Land. Ich habe mir das überlegt und dem zugestimmt. Bis zu diesem fatalen Tag hat dann auch alles gut funktioniert. Dass es so ausgehen würde, damit haben wir nicht gerechnet.

Es gab Menschen, die nach dem Überfall gesagt haben: "Der Bischof ist fahrlässig. Er hätte intervenieren sollen." Dabei hatte ich auch den Mutter-Teresa-Schwestern freigestellt, sich zurückzuziehen. Aber sie haben gesagt: "Es gehört zu unserer Mission, dass wir in Konfliktgebieten nicht davonlaufen." Natürlich hätte ich ihren Rückzug befehlen können. Das habe ich nicht getan.

Ja, ich habe gebetet und gerungen in dieser Situation. Das Risiko war nie genau abschätzbar. Dass es im Jemen gefährlich ist, das hat jeder von uns gewusst. Ich habe es selbst bei Besuchen im Jemen gespürt. Aber ich bin zur Überzeugung gekommen, dass das Risiko verantwortbar sei.

DOMRADIO.DE: Würden Sie heute anders entscheiden?

Hinder: Trotz allem würde ich in einer vergleichbaren Situation heute nicht anders handeln. Natürlich wusste ich damals nicht, was geschehen würde. Und wenn ich das heute wüsste, würde ich niemanden in den sicheren Tod schicken.

Aber damals haben mir die Schwestern deutlich gesagt: "Wir können die Leute nicht im Stich lassen. Das ist unsere Mission, wir stehen dazu." Das habe ich respektiert und bewundert.

DOMRADIO.DE: Im Laufe der Gefangenschaft haben die Entführer, islamistische Terroristen, Videobotschaften von Pater Tom veröffentlicht.

Hinder: Das war für mich das Schlimmste. Im Video hat er mich direkt angesprochen und mich gebeten, alles zu unternehmen, um ihn frei zu kriegen. Und das habe ich ja auch getan. Aber er wusste es nicht. Er konnte es nicht wissen.

Ich habe alle Kanäle genutzt, die mir zur Verfügung standen. Über die Details kann ich in der Öffentlichkeit nicht sprechen. Wichtig ist, dass es am Ende funktioniert hat.

DOMRADIO.DE: Im September 2017 kam Pater Tom dann frei. Wie war das für Sie, als sie diese Nachricht gehört haben?

Hinder: Ich war von den entsprechenden Leuten schon vorinformiert, dass die Freilassung geplant ist. Aber ich habe natürlich mitgefiebert, ob die Aktion auch wirklich erfolgreich sein würde. Bis zum letzten Moment wussten wir nicht, ob die Freilassung gelingt. Es gab viele Unsicherheitsfaktoren.

Ich weiß noch, wie mich ein Sicherheitsmann anrief und sagte: "Wir sind jetzt in Maskat. Der Mann ist gerettet." Und dort, am Telefon aus der Hauptstadt des Oman, habe ich dann auch zum ersten Mal wieder seine Stimme gehört. Einige Tage danach haben wir uns in Rom wiedergesehen. Das war sehr berührend und da sind auch einige Tränen geflossen.

DOMRADIO.DE: In einigen Ländern der Welt sind Angriffe auf Christen beinahe an der Tagesordnung. Was ist die Motivation, von Missionaren wie den Mutter-Teresa-Schwestern oder Pater Tom, trotz aller Gefahren und Ungewissheiten fern von der Heimat für ihren Glauben einzustehen?

Hinder: Das kann nur aus der festen Überzeugung geschehen, in der Nachfolge Jesu zu stehen. Ich habe keine bessere Erklärung dafür. In ihrer Nachfolge nehmen die Missionarinnen und Missionare eine Verantwortung für andere Menschen war, seien es glaubende, andersglaubende oder nicht glaubende Menschen.

Jeder überzeugte Christ und jede überzeugte Christin lebt ja nicht für sich selbst. Wir Christen leben für den Herrn, aber auch für die anderen. Jemand, der vollauf von diesem Glauben überzeugt ist, der wird sich mit allem, was er hat, für diesen Glauben einsetzen - auch bis zum Äußersten, bis zum Tod.

Es gibt sicher Situationen, in denen sich Christinnen und Christen aus Verantwortung für andere dagegen entscheiden, sich in eine mögliche Gefahr zu begeben. Das ist legitim und verständlich. Jesus hat schon seinen Jüngern gesagt: "Überlegt nicht, was ihr sagen sollt. Der Heilige Geist wird euch das Richtige eingeben."

Darauf können wir vertrauen, wenn es darum geht, etwas zu sagen, uns richtig zu verhalten oder uns richtig zu entscheiden. Ich lebe als Christ aus meinem Glauben. Ich versuche Jesus in der konkreten Situation nachzufolgen, in der ich lebe. Ich bleibe, wenn ich bleiben muss. Oder ich gehe weiter, wenn mir gesagt wird: Nimm dein Bett und steh auf.

DOMRADIO.DE: Vor etwa 20 Jahren haben Sie ihr Bett genommen und sind nach Arabien gezogen.

Hinder: Exakt 19 Jahre sind es jetzt.

DOMRADIO.DE: Als Ordenschrist, als Kapuziner, ist man Aufbrüche gewohnt. Welche Rolle spielt ihr Kapuziner-Sein für ihre Mission in Arabien?

Hinder: Als Kapuziner bin ich es gewohnt, in eine neue Situation einzusteigen. Das hat mir geholfen. Wir sind ja ein Wanderorden, wie man so schön sagt. Umgekehrt hat es aber auch mein Selbstverständnis als Kapuziner bereichert, dass ich in einer für mich völlig neuen Welt Bischof geworden bin.

DOMRADIO.DE: Inwiefern?

Hinder: Ich bin bestimmt kein idealer Kapuziner. Aber ich lebe mein Leben mit Menschen ganz unterschiedlichster Art und Herkunft. In Italien werden die Kapuziner "Frati del Popolo" genannt. Hier habe ich neu gelernt, bei den Leuten zu sein.

Uns alle verbindet, dass wir gemeinsam Migranten sind. "Expats", sagt man hier: Wir sind aus dem eigenen Vaterland, aus der Vertrautheit unserer Heimat weggezogen. Bei mir ist es eine Sendung, die mir vom Heiligen Vater anvertraut worden ist. Andere sind hier, weil sie ihr Brot verdienen und ihre Familien unterhalten müssen. Uns verbindet, dass wir „Expats“ sind.

Dazu kommt, dass der Glaube der Leute hier meinen eigenen Glauben vertieft hat. Ich habe meinen Leuten oft gesagt: "Es ist nicht nur so, dass ich euer Hirte bin. Ihr seid auch meine Hirten."

DOMRADIO.DE: Ob als Weihbischof oder als Apostolischer Vikar in den vergangenen Jahren: Wofür sind Sie am dankbarsten, wenn Sie auf ihre Zeit in Arabien zurückblicken?

Hinder: Am dankbarsten bin ich für die positive Erfahrung von Kirche, die ich hier machen durfte. Dazu muss ich vorausschicken: Ich weiß um die Skandale. Ich weiß um die Verbrechen in dieser Kirche. Die möchte ich nicht kleinreden. Sie schmerzen sehr - nicht nur mich, sondern vor allem die, die daran leiden mussten und noch immer leiden.

Aber hier in Arabien habe ich die Kirche in ihrer Lebendigkeit und auch in ihrer Tiefe erlebt. Ich durfte hier eine grundsätzlich froh gestimmte Kirche erleben und das hat mich selber geprägt.

Ich habe Kirchen bauen zu dürfen - auch im materiellen Sinn. In den 18 Jahren meiner Verantwortung habe ich sieben Kirchen errichten können. Ich durfte katholische Schulen in einem Gebiet eröffnen, wo man das nicht ohne Weiteres erwartet. Das erfüllt mich noch heute mit Freude.

Bischof Paul Hinder (Kapuziner und emeritierter Apostolischer Vikar für Arabien)

"Kirche lebt. Sie ist nicht tot. Im Gegenteil: In schwierigen Situationen ist sie vielleicht sogar besonders vital."

Ich habe Gemeinden besucht - ich denke an meinen kürzlichen Saudi-Arabien-Aufenthalt -, die in der Verborgenheit leben. Das wunderschöne dort war zu sehen: Kirche lebt. Sie ist nicht tot. Im Gegenteil: In schwierigen Situationen ist sie vielleicht sogar besonders vital.

Als einer der wenigen Bischöfe habe ich die Freude gehabt, Papst Franziskus zweimal willkommen zu heißen. Vor vier Jahren hier in Abu Dhabi und kürzlich in Bahrain. Das habe ich als kleine Krönung meiner Zeit wahrgenommen. Von außen besehen denkt man häufig: Arabien? Da gibt es keine Christen. Aber das ist falsch. Die Kirche existiert auch hier. Auch hier sind Christen unterwegs.

Als sich abzeichnete, dass ich möglicherweise Bischof in Arabien werden würde, hatte ich es schwer, dem zuzustimmen. Ich habe mich dann zu einem "Ja" durchgerungen und habe das nie bereut. Ich habe mir dann gesagt: "Jetzt bist du hier, das ist deine Aufgabe." Und ich bin bereichert worden. Was mir bleibt, ist die Hoffnung, dass ich meinen Teil zur Lebendigkeit dieser Kirche beitragen konnte. Ja, ich bin dankbar für diese Jahre.

Das Interview führte Gerald Mayer.

Katholische Kirche in Arabien

Auf der Arabischen Halbinsel gibt es zwei Apostolische Vikariate, also Vorstufen einer Diözese - für das Südliche Arabien (Vereinigte Arabische Emirate, Jemen, Oman) und das Nördliche Arabien (Bahrain, Katar, Kuwait, Saudi-Arabien). Zusammen haben sie eine Fläche von rund drei Millionen Quadratkilometern und zählen damit zu den größten Kirchenbezirken der Welt. Insgesamt leben in den Vikariaten rund 3,5 Millionen Katholiken, die von nicht einmal 140 Priestern betreut werden.

Papst Franziskus in Abu Dhabi  / © Vatican Media (KNA)
Papst Franziskus in Abu Dhabi / © Vatican Media ( KNA )
Quelle:
DR