Evangelische Kirche geht nächsten Schritt bei Aufarbeitung

Wichtige Unterschrift

Infolge der Missbrauchsstudie in der evangelischen Kirche sollen sich unabhängige regionale Aufarbeitungskommissionen bilden. Der Verbund West hat sich an diesem Montag als erster Verbund gegründet. Was genau ist seine Aufgabe?

Die evangelischen Landeskirchen und die Diakonie in Nordrhein-Westfalen haben zur weiteren Aufarbeitung von Missbrauchsfaellen einen Verbund gegruendet. / © Uwe Möller  (epd)
Die evangelischen Landeskirchen und die Diakonie in Nordrhein-Westfalen haben zur weiteren Aufarbeitung von Missbrauchsfaellen einen Verbund gegruendet. / © Uwe Möller ( epd )

DOMRADIO.DE: Heute haben die Leitungen der evangelischen Landeskirchen Rheinland, Westfalen und Lippe sowie die Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe eine gemeinsame Erklärung zur Konstitution des Verbunds West unterschrieben. Was bedeutet das konkret? 

Christoph Pistorius, Vizepräses der Evangelischen Kirche im Rheinland und Koordinator im Verbund West / © Elena Hong (DR)
Christoph Pistorius, Vizepräses der Evangelischen Kirche im Rheinland und Koordinator im Verbund West / © Elena Hong ( DR )

Christoph Pistorius (Vizepräses der Evangelischen Kirche im Rheinland und Koordinator des Verbunds West): Nachdem wir die Vorbereitungen für die Konstituierung dieses Verbundes getroffen haben, haben wir den Verbund heute durch die Unterschriften gegründet. Wir machen uns damit die Erklärung aus dem Dezember vergangenen Jahres verbindlich zu eigen. 

Wir werden als nächstes die Landesregierungen anschreiben und um die Benennung von Experten und Expertinnen zur Bildung der Kommission bitten. Und wir werden eine Forumsveranstaltung im Juni planen, bei der sich betroffene Personen finden und organisieren können. Dann können sie entscheiden, wer sie in der Kommission vertritt. 

Christoph Pistorius

"[Die Kommission] ist ansprechbar für betroffene Personen, denen sexualisierte Gewalt widerfahren ist, im Raum von Kirche oder Diakonie, und die eine Aufarbeitung wünschen."

DOMRADIO.DE: Was genau soll beziehungsweise darf diese Kommission leisten? 

Pistorius: Wie der Name schon sagt, ist die Kommission verantwortlich und befugt, notwendige Prozesse zum Zweck der Aufarbeitung in Gang zu setzen. Sie ist ansprechbar für betroffene Personen, denen sexualisierte Gewalt widerfahren ist, im Raum von Kirche oder Diakonie, und die eine Aufarbeitung wünschen. 

Dann ist es Aufgabe der Kommission, festzulegen, in welchen Prozessschritten das erfolgt. Das kann zum Beispiel auch die Vergabe von Studien sein. 

DOMRADIO.DE: Nach der Veröffentlichung der ForuM-Studie gab es viel Kritik am Selbstbild der evangelischen Kirche, auch am "Harmoniezwang"? Ist diese Unterschrift nur eine Fortsetzung davon, ein reines Lippenbekenntnis? 

Pistorius: Das hat mit Harmoniezwang nichts zu tun. Es ist ja so, dass wir uns dazu verabredet haben, uns in diese Prozesse einzubringen, welche auf dem Beteiligungsforum verbindlich vorbereitet und besprochen werden, in Abstimmung mit der UBSKM (Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs). 

Für die beteiligten drei Landeskirchen und die Diakonie heißt das auch, dass sie zum Beispiel finanzielle und personelle Ressourcen zur Verfügung stellen. 

DOMRADIO.DE: Wie sollen die Betroffenen in die Aufarbeitung eingebunden werden? 

Pistorius: Zunächst einmal werden wir alle Betroffenen öffentlich einladen, wie das alle Verbünde tun werden, mit einem Textentwurf, der mit dem Beteiligungsforum abgestimmt wird. Sie können dann selbst entscheiden, ob sie zu einer Veranstaltung in einem Verbund oder in mehreren gehen. Das ist offen gehalten. 

Diese Forumstage werden extern moderiert und im Laufe wird dann geschaut: Gibt es Personen, die sich nochmal zu einem Workshop anmelden wollen? Im Rahmen dieses Workshops soll dann geklärt werden, wer die Betroffenen in der Kommission vertritt. 

DOMRADIO.DE: Insgesamt soll es neun solcher Gremien geben. Wäre ein bundesweit einheitliches Vorgehen da nicht sinnvoller? 

Pistorius: Das Vorgehen ist insofern einheitlich, als dass die neun Verbünde mit der UBSKM abgestimmt sind. Die Kommission hatte sich da ein Mitspracherecht erbeten, was wir gerne eingeräumt haben. Insofern steht fest, wie diese neun Verbündeten sich zusammensetzen werden. Das Datum der Unterzeichnung setzen die Verbünde selbst. Acht müssen sich also noch konstituieren. 

Wichtig war uns, dass wir das soweit gut vorbereitet haben, dass wir inzwischen die Stelle der Geschäftsführung ausschreiben konnten und damit die Rahmenbedingungen für die Arbeit der Kommission sichergestellt haben. Ab März 2025 sollen dann alle Gremien arbeiten.

 

DOMRADIO.DE: Ist die regionale Aufarbeitungskommission auch zuständig für die Nachlieferung von Personalakten, die bei der ForuM-Studie nicht vorlagen? 

Pistorius: Zu den Personalakten kann ich nur sagen: Wir haben knapp 4.770 Personalakten von Pfarrpersonen durchgearbeitet. Nicht nur Disziplinarakten, alle Personalakten. 

DOMRADIO.DE: Sie meinen im Rheinland?

Pistorius: Die Evangelische Kirche im Rheinland hat 4.776 Personalakten von Pfarrpersonen durchgearbeitet, für das Teil-Projekt E. In Fragebögen wurde die Zuordnung zu Disziplinarakten abgefragt. Wir haben aber deshalb schon die Personalakten gewählt, weil bis 1980 gar keine Disziplinarakten geführt worden sind. 

Das heißt, alle Pfarrpersonen als Beschuldigte oder Täter vor 1980 wären herausgefallen, wenn wir uns nur auf die Disziplinarakten bezogen hätten. Deshalb war es uns von Anfang an ein Anliegen, alle Personalakten von Pfarrpersonen durchzuarbeiten. Das geht jetzt weiter. 

Wir werden im Rahmen der Konferenz der Superintendenten und Superintendentinnen mit den Kirchenkreisen verabreden, wie die Aufarbeitung der Akten in den Kirchenkreisen vonstattengeht. Denn dort sind ja die meisten Beschäftigungsverhältnisse: Jugendmitarbeitende, Kirchenmusiker, Kita-Mitarbeitende. Das sind Beschäftigungsverhältnisse, für die die Landeskirche gar keine Akten hat. 

Das Interview führte Elena Hong.

Missbrauchsstudie der Evangelischen Kirche

Die Zahl der Missbrauchsopfer in der evangelischen Kirche und Diakonie ist viel höher als bislang angenommen. Laut einer Studie sind seit 1946 in Deutschland nach einer Hochrechnung 9.355 Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht worden. Die Zahl der Beschuldigten liegt bei 3.497. Rund ein Drittel davon seien Pfarrpersonen, also Pfarrer oder Vikare. Bislang ging die evangelische Kirche von rund 900 Missbrauchsopfern aus. Die Forum-Studie wurde von einem unabhängigen Forscherteam erarbeitet und in Hannover veröffentlicht.

Gedruckte Ausgaben der Studie zu Missbrauch in der evangelischen Kirche liegen auf einem Tisch / © Sarah Knorr (dpa)
Gedruckte Ausgaben der Studie zu Missbrauch in der evangelischen Kirche liegen auf einem Tisch / © Sarah Knorr ( dpa )
Quelle:
DR