Münchner Missbrauchsgutachten wirft Schatten voraus

"Es könnte unangenehm werden"

Gerichte in Deutschland müssen ihre Urteile publik machen. In der katholischen Kirche gibt es eine solche Informationspflicht nicht. Der erneute Wirbel um einen berühmten Münchner Missbrauchsfall zeigt, wie problematisch das ist.

Autor/in:
Christoph Renzikowski
Eingang zum Büro der Münchner Rechtsanwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl  / © Dieter Mayr (KNA)
Eingang zum Büro der Münchner Rechtsanwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl / © Dieter Mayr ( KNA )

2017 bestätigte der Bundesgerichtshof: Die Justiz muss über alle ergangenen Entscheidungen "im Namen des Volkes" ebendiesem Volk Auskunft geben. Davon profitieren nicht nur Juristen, sondern auch Journalisten und Verbraucher: Das unterscheidet den Rechtsstaat von der Willkürjustiz. Die nämlich sucht und verurteilt ihre Schuldigen unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Urteile von Kirchengerichte nur selten öffentlich

In der katholischen Kirche fehlt es bisher an judikativer Transparenz. Urteile von Kirchengerichten werden, wenn überhaupt, häufig nur über verschlungene Pfade und dann auch nur in Auszügen publik. Das Durchstechen solcher Informationen ist meist mit Interessen verknüpft, was nicht unbedingt zur vollständigen Aufklärung des Sachverhalts beiträgt.

In ihrer ersten Ausgabe 2022 wartete die Hamburger "Zeit" am 4. Januar mit einer aufwändigen Recherche auf. Der Redaktion liege ein bisher geheim gehaltenes Dekret vor, durch das hochrangige Würdenträger als Vertuscher belastet würden bis hinauf zum ehemaligen Papst Benedikt XVI.

Fall des Essener Diözesanpriester Peter H.

Es geht um den Fall des Essener Diözesanpriesters Peter H., einen Wiederholungstäter, der nach ersten sexuellen Übergriffen auf Minderjährige in seinem Heimatbistum zunächst 1980 nach München geschickt wurde, um sich einer Therapie zu unterziehen. Eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft unterblieb ebenso wie ein innerkirchliches Strafverfahren. In Oberbayern wurde H. wieder in der Seelsorge eingesetzt, rückfällig und von einem Amtsgericht zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Doch auch danach durfte er weiter - in einer anderen Pfarrgemeinde - als Priester wirken, wo er abermals Opfer fand. Erst 2010 wurde er dauerhaft aus dem Verkehr gezogen.

Der Fall ging damals schon durch die Weltpresse. Er gilt als Musterbeispiel dafür, wie katholische Instanzen im Umgang mit Missbrauch versagten und durch Versetzen und Vertuschen weitere Straftaten ermöglichten, anstatt die Verbrechen schnellstmöglich zu stoppen. Seine Brisanz erhält er außerdem durch die Beteiligung prominenter Kirchenmänner. Deren Riege wird angeführt von Benedikt XVI., der von 1977 bis 1982 den Münchner Bischofsstuhl innehatte, und dem dortigen aktuellen Amtsinhaber Kardinal Reinhard Marx.

Die Frage, wer was wann gewusst und entschieden hat und somit verantwortlich ist, erhitzt schon seit 2010 die Gemüter. Das neue Gutachten der Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) soll darüber nach dem Wunsch seines Auftraggebers Marx Aufschluss geben. Es könnte auch für ihn selbst unangenehm werden.

Geheimes Dekret mit verschiedenen Lesarten

Eine Schlüsselrolle kommt bei der Beantwortung der Frage der Interpretation des besagten Dekrets zu, das laut "Zeit" das Datum vom 9. Mai 2016 trägt. Geheim war es zumindest in seinen Grundzügen schon länger nicht mehr. 2018 berichtete ausführlich die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", allerdings noch vollständig anonymisiert. Zwei Jahre später zog die "Süddeutsche Zeitung" nach. In dem Dekret wurde H. zu einer Geldstrafe verurteilt und das de facto verhängte Berufsverbot bestätigt. Die vermeintliche Höchststrafe, die Entfernung aus dem Klerikerstand, blieb ihm jedoch erspart.

Die bisherigen Lesarten des Dekrets waren überwiegend von Empörung über das anscheinend viel zu milde Urteil geprägt. In der SZ erhielt sein Hauptautor, der Münchner Offizial Lorenz Wolf, die Gelegenheit sich zu rechtfertigen. Tenor: Mehr war nicht drin, denn ich durfte wegen der Vorgaben aus Rom nicht selbst ermitteln. In der "Zeit" adeln zwei andere deutsche Kirchenrechtler, Bernhard Anuth aus Tübingen und Norbert Lüdecke aus Bonn, das Urteil nun als einmaligen Ausweis des Versagens der kirchlichen Hierarchie im Umgang mit dem Wiederholungstäter, wobei sie den Kirchenrichter ausdrücklich davon ausnehmen.

Die beteiligten Bischöfe hätten den Fall schon frühzeitig nach Rom melden müssen, sagen sie. Andere Kirchenrechtler wie der Münsteraner Klaus Lüdicke können nicht erkennen, dass es eine solche Meldepflicht schon vor 2001 gab. Das liegt möglicherweise auch daran, dass die älteren kirchenrechtlichen Vorschriften zum Umgang mit dem "Crimen sollicitationis" ("Verbrechen der Verführung") nicht eindeutig formuliert waren.

Zu Zeiten des Erzbischofs Joseph Ratzinger

Die zuletzt veröffentlichten Stellungnahmen Beteiligter zum Fall H. müssen auf Betroffene wie ein unwürdiges Blame Game wirken. Benedikts Sekretär Erzbischof Georg Gänswein trat der durch das Wolfsche Dekret genährten Behauptung entgegen, sein Chef habe 1980 zum Zeitpunkt der Aufnahme des Priesters in München etwas von dessen Vorgeschichte gewusst. Allerdings war Joseph Ratzinger auch danach noch fast zwei Jahre Erzbischof in München und Freising. Inwiefern er in dieser Zeit - und später als Glaubenspräfekt - mit der Causa in Berührung kam, ist bisher unklar.

In einem Interview mit der "Rheinischen Post" machte der seit November 2009 in Essen für H. zuständige Bischof Franz-Josef Overbeck geltend, er hätte sich rückblickend "ein Verfahren gewünscht, das die Vorgänge und Verbrechen konsequenter aufklärt". Ob er nicht aber - auch wie es Marx vorgeworfen wird - den Fall in Rom gerade so betrieb, dass diese Aufklärung in einem ordentlichen Strafverfahren nicht erfolgen konnte, um vorrangig den damals amtierenden Papst zu schützen, diese Frage beantwortete der Ruhrbischof in dem Interview nur ausweichend.

Der Jesuit Hans Zollner, einer der wichtigsten katholischen Missbrauchsexperten, schreibt in einem gerade veröffentlichten neuen Aufsatz ("Wandel durch Bruch?", in: "Katholische Dunkelräume. Die Kirche und der sexuelle Missbrauch", hg. von Birgit Aschmann, Schöningh Verlag): "Wie die sehr schmerzhaften und enttäuschenden Erfahrungen der vergangenen Jahre lehren, kann die Kirche das verlorengegangene Vertrauen nur dann zurückgewinnen, wenn deren Repräsentanten offen und ehrlich ihre Fehler, Verbrechen und Sünden eingestehen und alles nur irgend Mögliche tun, damit die mit Mühsal Beladenen in ihr Orte der Heilung und, wo möglich, Versöhnung finden. Dazu gehört, dass sich Kirchenführung und Kirchenvolk dem stellen, was in der Vergangenheit an Verbrechen und an Vertuschung geschehen ist, und dass von Missbrauch Betroffene an Aufarbeitungsprozessen ihren selbstverständlichen und selbstverantworteten Anteil haben."

Schritt 2 und Schritt 3 werden schon vielerorts gegangen, aber Schritt 1 steht weithin aus. Und klar ist auch, dass das für die Woche nach dem 17. Januar angekündigte Auftragsgutachten der Münchner Anwälte allenfalls eine Krücke ist. Die systematischen Mängel im kirchlichen Recht und seiner Anwendung können dadurch nur verdeutlicht, aber nicht kompensiert werden.


Kardinal Reinhard Marx / © Harald Oppitz (KNA)
Kardinal Reinhard Marx / © Harald Oppitz ( KNA )

Joseph Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI., 2017 / © Lena Klimkeit (dpa)
Joseph Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI., 2017 / © Lena Klimkeit ( dpa )
Quelle:
KNA