World Vision zur Lage im Flüchtlingslager auf Lesbos

"Es ist eine enorme Notsituation"

Im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos sammeln sich immer mehr Menschen unter schlechten Bedingungen. Das Hilfswerk World Vision schildert seine Eindrücke und berichtet von erschütternden Bildern.

Migranten in Griechenland / © Aggelos Barai (dpa)
Migranten in Griechenland / © Aggelos Barai ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wo genau waren Sie auf Lesbos?

Christoph Waffenschmidt (Vorstandsvorsitzender World Vision Deutschland e.V.): Lesbos ist eine Insel, die wirklich in Sichtweite der Türkei liegt, also sozusagen die äußerste Ecke der EU. Auf Lesbos waren wir im Lager Moria. Das ist ein Lager, wo sich vor allen Dingen in den letzten Monaten sehr viele Flüchtlinge gesammelt haben. Das ist ein Lager, das aus einer Militärsiedlung beziehungsweise einem Militärlager der griechischen Armee entstanden ist. Dort wurden die ersten Flüchtlinge einquartiert, und in dem umliegenden Olivenhain hat sich eine große Menge an Menschen in Zelten versammelt. Da reden wir mittlerweile von gut 20.000 Menschen, die als Flüchtlinge in diesen Olivenhain oder, wie es die Flüchtlinge selber sagen, in diesen "Dschungel" gekommen sind.

DOMRADIO.DE: Was war Ihr Eindruck? Wie geht es den Menschen dort?

Waffenschmidt: Wir bei World Vision sind ein Kinderhilfswerk, das in vielen Ländern unterwegs ist. Ich bin in vielen Lagern gewesen: auf dem afrikanischen Kontinent oder auch in den letzten Jahren im Libanon, in Jordanien. Aber eine Situation wie auf Lesbos in diesem Lager Moria habe ich noch nicht gesehen. Es ist so unorganisiert und so unstrukturiert, dass eben genau dieser Begriff "Dschungel" zutrifft. Und gerade in den letzten Monaten, sind noch einmal enorm viele Menschen gekommen.

Das eigentliche Lager, das Ursprungslager ist gar nicht in der Lage, diese Menge an Flüchtlingen aufzunehmen, von daher leben die Menschen in Zelten. Sie leben im Dreck, im Müll, im Abfall, der sich einfach ansammelt. Das sind wirklich erschütternde Bilder.

Dieser Begriff "Dschungel", den die Flüchtlinge selber nutzen, ist leider tatsächlich angebracht, weil es wild ist und teilweise auch gefährlich – gerade für viele der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge. Von daher ist es eine enorme Notsituation, nicht nur, weil sie geflohen sind, sondern weil sie jetzt in einer Situation sind, die einfach unsicher und instabil von den Lebensverhältnissen ist.

DOMRADIO.DE: Sie haben sich auch mit Kindern unterhalten. Was erzählen die?

Waffenschmidt: Vielleicht ist es ganz gut, mal eine Zahl zu nennen. Es wird davon ausgegangen, dass gut tausend Kinder dort sind, die minderjährig und unbegleitet sind. Das heißt, sie sind ohne Eltern oder Verwandte da. Tausend Kinder von insgesamt 20.000 Flüchtlingen im Lager – das ist eine enorme Menge. In der Regel sind die Kinder natürlich unter 18, eine große Zahl von ihnen ist aber auch unter 14 Jahre alt.

Wir haben auch mit einigen von den Kindern sprechen können. Ganz beeindruckend fand ich die Begegnung mit einem jungen afghanischen Mädchen. Sie ist 14 Jahre alt. Mehrfach hat sie diesen Begriff "Dschungel" benutzt und hat auch selbst gesagt: "Ich fühle mich wie ein Tier, weil so mit uns umgegangen wird und das die Lebenssituation ist, in der wir gerade sind." Das hat mich natürlich tief getroffen. So eine Aussage.

Von daher ist unser Appell oder unsere klare Forderung auch als christliches Kinderhilfswerk, dass man sich in Europa – vor allem die Politik – ganz stark um diese minderjährigen Kinder kümmern muss und sich ihrer annehmen muss.

DOMRADIO.DE: Wie sind da die Aussichten? Tut sich da etwas? Haben Sie die Hoffnung?

Waffenschmidt: Es wird ja viel verhandelt auf europäischer Ebene. Was mich ein wenig hoffnungsfroh stimmt, ist, dass es mittlerweile viele Kommunen in Deutschland gibt, die sagen: Ja, wir sind bereit, diese Kinder, diese unbegleiteten Jugendlichen aufzunehmen. Und das ist ja eigentlich das Prinzip, das wir in Deutschland immer anwenden. Wenn Kinder Waisen werden, wenn sie praktisch keine Familie mehr haben, dann greift der Staat mit dem Jugendamt ein. Die sorgen dann dafür, dass sie eine gute Umgebung finden und in Sicherheit aufwachsen können.

Und eigentlich fordern wir nichts anderes als genau das. Das sind Kinder, die ohne ihre Verwandten, ohne ihre Familie, ohne ihre Eltern unterwegs sind. Um sie soll sich öffentliche Hand kümmern und ihnen Schutz und Sicherheit geben. Und wenn jetzt schon so viele Kommunen in Deutschland sagen: "Hey, wir sind bereit, wir kümmern uns um die Kinder und nehmen sie auf", dann braucht es eigentlich nur ein klares politisches Signal von der Bundesregierung, diesen Weg freizumachen, sodass die Kinder wirklich Schutz und Sicherheit erfahren können.

Das Interview führte Katharina Geiger.


Quelle:
DR