Theologe und USA-Experte zur Eskalation in Washington

"Es ist ein selbst fabriziertes 9/11"

Der Schock sitzt tief, nachdem Demonstranten das Kapitol in Washington erstürmt haben. Der designierte US-Präsident Biden könne das Land nicht alleine versöhnen, dazu brauche es auch die Kirchen, meint der Theologe und USA-Experte Michael Hertl.

Anhänger von US-Präsident Donald Trump stürmen das US-Kapitolgebäude / © Bryan Smith/Zuma Press (dpa)
Anhänger von US-Präsident Donald Trump stürmen das US-Kapitolgebäude / © Bryan Smith/Zuma Press ( dpa )

DOMRADIO.DE: Was haben Sie gedacht, als Sie diese Bilder von den Ausschreitungen gesehen haben?

Dr. Michael Hertl (Theologe und USA-Experte): Ich war erstmal fassungslos. Ich hätte sowas vielleicht kurz nach der Wahl mal erwartet. Da war die Stimmung ähnlich aggressiv. Aber nachdem sich mittlerweile wieder alles in Bahnen bewegt hat, habe ich nicht damit gerechnet. Ich war geschockt.

DOMRADIO.DE: In seiner Rede am Mittag hatte Trump seine Anhänger zum Kämpfen aufgerufen. Einige US-Abgeordnete werfen dem abgewählten Präsidenten einen Putschversuch vor. Wie bewerten Sie dieses Verhalten des noch amtierenden Präsidenten Donald Trump?

Hertl: Eine demokratische Abgeordnete hat gestern schon getwittert, dass sie ein Amtsenthebungsverfahren vorbereitet. Der Präsident hat hier ganz klar Verfassungsbruch begangen, hat gegen seinen Amtseid verstoßen. Er ist eigentlich als Präsident nicht mehr tragbar. Es ist tatsächlich ein versuchter Putsch. Das muss man so einordnen.

DOMRADIO.DE: Es wurde ja schon im November bei der Präsidentschaftswahl befürchtet, dass es im Falle einer Niederlage Trumps zu Ausschreitungen kommen würde. Hätten Sie erwartet, dass es Washington so hart treffen würde?

Hertl: Ich habe das, wie gesagt, so nicht mehr erwartet. Nach den letzten Wochen allerdings, mehr im Nachhinein, muss man sagen, war es wohl der Plan von Trump, es auf diesen Tag ankommen zu lassen und die Kräfte auf diesen Tag zu konzentrieren. Kurz vorher hatte man ja noch den Ausnahmezustand für Washington ausgerufen. Aber da war es schon zu spät. Da waren die Rechtsextremen bzw. die aggressiven Menschen schon in der Stadt.

DOMRADIO.DE: Für Einige ist sicher noch gar nicht richtig zu begreifen, was diese Ereignisse gestern eigentlich für die Zukunft des Landes bedeuten. "Das ist nicht amerikanisch", sagte zum Beispiel Frankreichs Präsident Macron. Wie verändern diese Proteste die Stimmung im Land?

Hertl: Die Stimmung war schon länger aggressiv und polarisiert. Das Problem ist ja im Prinzip nicht nur Trump. Trump ist ein ein Brandverstärker oder Brandstifter meinetwegen. Aber die Stimmung, die Gegensätze im Land sind ja da. Er wäre ja nicht an der Macht und hätte auch nicht so viele Stimmen bekommen, wenn die Leute ihn nicht tatsächlich gewählt hätten. Das heißt, man kann jetzt nicht sagen, der neue Präsident Biden ist gemäßigt und wird versöhnen. So leicht ist es nicht. Es muss auch viel in den Parteien passieren. Die Republikaner an sich sind ja auch gespalten, da tut sich jetzt gerade einiges.

Vielleicht sind sie jetzt wachgerüttelt worden und sagen: Leute, lasst uns mal aus der Helikopterperspektive schauen, was hier eigentlich gerade passiert. Wir haben uns hier vereinnahmen lassen von einem Populisten. Und wie können wir uns als Partei eigentlich noch  vor den Menschensehen lassen? Es braucht vernünftige Menschen in den Parteien und es braucht auch meinungsstarke Persönlichkeiten in der Gesellschaft, die einfach sagen: Was wollen wir, was aus diesem Land eigentlich wird? Wollen wir uns bekriegen, wollen wir mehr oder weniger in einen Bürgerkrieg gehen? Oder wollen wir dieses Land in die Zukunft bringen? Da beziehe ich die Kirchen auch ausdrücklich mit ein. Die Kirchen dürfen sich auf keinen Fall an Polarisierung beteiligen. Dieses Land geht vor die Hunde. Es ist dramatisch.

DOMRADIO.DE: Sie haben es eben gesagt: Donald Trump ist eigentlich nicht mehr tragbar. Könnte er dennoch abgesetzt werden?

Hertl: Es gibt da verschiedene Mechanismen in der amerikanischen Verfassung. Es gibt den 25. Verfassungszusatz, der es dem Vizepräsidenten und der Mehrheit der Kabinettsmitglieder ermöglichen würde, ihn abzusetzen. Dann kann der Präsident aber noch sagen: Nein, ich bin amtsfähig, kann Widerspruch einlegen. Ich bin jetzt kein Jurist, aber ich schätze mal, das lohnt sich jetzt nicht mehr in den zwei Wochen, bevor ohnehin der neue Präsident ins Amt eingeführt wird. Aber ich könnte mir wirklich vorstellen, das wird eine der ersten Amtseinführungen sein, wo der ehemalige Amtsinhaber nicht dabei sein wird. Ich kann mir gerade nicht vorstellen, dass der neue Präsident vereidigt wird und Trump daneben sitzt.

DOMRADIO.DE: Am 20. Januar wird das soweit sein, in knapp zwei Wochen. Inwieweit haben die Ausschreitungen gestern verdeutlicht, was da für eine große Aufgabe auf Joe Biden zukommt?

Hertl: Die haben es noch einmal auf den Punkt gebracht. Diese Bilder werden ins kollektive Gedächtnis eingehen. Ich glaube das Kapitol hat vor 200 Jahren das erste Mal gebrannt und war diesmal auch wieder kurz davor. Es ist ein selbst fabriziertes 9/11 muss man fast sagen. Amerika hat sich da fast einen Inlandsterrorismus herangezüchtet. Und da wieder rauszukommen, die Gesellschaft da zu versöhnen, das ist fast für einen Menschen, selbst für Biden zu viel, da braucht es alle gesellschaftlichen Kräfte. 

Das Interview führte Carsten Döpp.


USA-Kenner und Journalist Michael Hertl (privat)
USA-Kenner und Journalist Michael Hertl / ( privat )
Quelle:
DR