Erzbischof Thissen im Geburtstagsinterview

"Es kommt auf jeden Einzelnen an"

Seit knapp sechs Jahren leitet Werner Thissen das Erzbistum Hamburg, Deutschlands jüngste und flächenmäßig größte Diözese. Für den Erzbischof, der am Mittwoch 70 Jahre alt wird, eine sehr facettenreiche Aufgabe. Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) am Montag in Hamburg spricht er über Musik und Medien, Diaspora und Dritte Welt.

 (DR)

KNA: Herr Erzbischof, wenn Sie ein Motto für Ihr bisheriges Leben finden müssten, wie würde das lauten?
Thissen: Ich habe mir als Bischof das Paulus-Wort gewählt «In Christus neue Schöpfung». Das begeistert mich nach wie vor, gerade jetzt im Paulusjahr. Es heißt ja, egal, was passiert, mit Christus sind wir immer neu und initiativ. Auch für einen 70-Jährigen ist das ein wichtiges Wort.

KNA: Sie sind ein erklärter Freund von Theater, Musik und Literatur. Wie finden Sie hierfür Zeit?
Thissen: In der Kulturstadt Hamburg funktioniert das wunderbar. Ich werde öfter gefragt, ob ich an Filmdiskussionen teilnehmen, für das Programmheft einer Oper schreiben oder im Theater einen Vortrag über ein Stück halten möchte. Da kann ich für Dinge, die ich gerne tue, sogar Dienstzeiten einsetzen: eine Art «wunderbare Zeitvermehrung».

KNA: Was gibt Ihnen das?
Thissen: Bei all diesen kulturellen Dingen geht es letztlich auch um die Frage nach Gott. Dazu etwas zu erarbeiten, sehe ich als meine Aufgabe an. Und: Auch Menschen, die gar nicht so religiös sind, kann man über Kunst erreichen.

KNA: Wie passt dazu ein anderes Hobby von Ihnen, der Fußball?
Thissen: Das Spannende am Fußball ist für mich das Wechselspiel zwischen dem Einzelnen und der Mannschaft. Diese Frage, das Individuum und die Gemeinschaft, spielt in Gesellschaft, Familie, Kirche, überall eine Rolle. Da entdecke ich in einem auf den ersten Blick ganz profanen Unterfangen fast existenzielle Inhalte.

KNA: Welches nicht theologische Buch haben Sie zuletzt gelesen?
Thissen: Den Briefwechsel zwischen den Lyrikern Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Dadurch kann ich die Gedichte der beiden, die ich sehr schätze, aus deren Biografie verstehen. Zum Beispiel das Gedicht «Vertrau der Tränenspur und lerne leben». Das sind ja sehr kryptische Zeilen, die ich jetzt im Kontext des sehr bedrängten Lebens von Paul Celan lesen kann.

KNA: Sie selbst besitzen keinen Fernseher. Teilen Sie das Urteil des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki über dieses Medium?
Thissen: Ich mag das Fernsehen durchaus. Es ist aber nicht mein Medium, auch, weil es zu zeitaufwändig ist. Da setze ich eher auf das Internet.
KNA: Surfen Sie schon mal im Internet?
Thissen: Ja, wenn ich zum Beispiel in eine Gemeinde in Holstein fahre und Gottesdienst halte, muss ich ja deren Webseite kennen. Wenn sie gut gemacht ist, sage ich das auch schon mal in der Predigt.

KNA: Ihr Namenstag fällt mit dem Wahltag Papst Benedikt XVI.
zusammen. Was verbindet Sie sonst noch mit dem Papst?
Thissen: Ich kenne ihn ja seit meiner Studienzeit in Münster. Damals waren wir sehr begeistert von diesem jungen Professor, von seiner Art, Theologie zu betreiben: ganz biblisch, aber auch mit einem weiten philosophischen Horizont. Wenn ich ihn jetzt sehe, spricht er oft von seinem Besuch in Hamburg Ende der neunziger Jahre.

KNA: Welche Rolle spielt das Thema Ökumene für Sie?
Thissen: Wir sind als christliche Kirchen gewillt, den Weg auf Einheit hin entschieden weiter zu gehen. In Schwerin, Hamburg und Kiel läuft das sehr gut, wir treffen uns regelmäßig zum Austausch. Wenn es Verstimmungen gibt, rufen wir uns an und klären das. Kummer macht mir aber, dass es bei manchen bereits erledigten Dingen Rückschritte gibt, etwa bei den Vereinbarungen zur Rechtfertigungslehre und zur «Gemeinschaft der Heiligen». Das hemmt, wenn man den Eindruck haben muss, wir erarbeiten das, sind uns einig, aber es wird nicht umgesetzt. Aber diese Dinge kann man verbessern, dann geht es weiter auf Einheit zu.

KNA: Wie kann die Kirche ihre Kompetenz in gesellschaftlichen Debatten um Sterbehilfe, Gentechnik, Armut oder Finanzkrise stärker einbringen?
Thissen: Da sind für mich die Medien sehr wichtig. Wir als Kirchen sind in den Medien gefragt, haben es aber oft schwer, mit unseren genuinen Aussagen durchzukommen. Aber die Medienschaffenden sind ja nicht nur Treiber, sondern auch Getriebene und müssen ihr Produkt auf den Markt bringen. Hier müssen wir als Kirche noch mehr tun, um präsenter zu sein. Ich möchte keine Medienschelte betreiben, sondern auf sie zugehen. Gerade hier im Norden erlebe ich die Medienschaffenden als sehr offen, was nicht heißt, dass ich mich nicht manchmal ärgere.

KNA: Was kann die Kirche von den Erfahrungen aus der Diaspora lernen?
Thissen: Dass es auf den Einzelnen ankommt. Das gilt auch immer mehr in Gebieten, die heute nicht Diaspora sind. Die Einstellung, ich bin getauft, ich bin gefirmt, deshalb bin ich hier jemand, der für Kirche steht, halte ich für sehr wichtig. Hier im Norden kommt dazu, dass wir Ost-Westflächen haben. Das kann sich gegenseitig sehr bereichern, auch wenn es mal Probleme geben kann aufgrund der verschiedenen Sichtweisen.

KNA: Wie haben sich Ihre Vorstellungen einer lebendigen Kirche seit Ihrer Priesterweihe bis heute, als Erzbischof von Hamburg, gewandelt?
Thissen: Meine erste Stelle nach der Priesterweihe war als Kaplan am Rand des Ruhrgebiets. Ich habe versucht, die vielen Kirchgänger auch außerhalb der Kirche aufzusuchen. Das war unser Seelsorgekonzept. Heute ist es genau umgekehrt: Ich suche die Leute auf und versuche, sie zur gottesdienstlichen Versammlung zu bewegen.

KNA: Was ist Ihnen an Ihrem Amt als «Misereor-Bischof» besonders wichtig?
Thissen: Es ist für mich immer wieder eine umwerfende Erfahrung, mit wie wenig Mitteln man den Menschen im Süden der Erde Mut machen kann, selbst etwas zu tun, wenn sie spüren, wir sind nicht allein, sondern bekommen Hilfe. Darauf will ich aufmerksam machen.

KNA: Haben Sie sich mit dem neuen Mariendom Ihren größten Geburtstagswunsch erfüllt?
Thissen: Der neue Mariendom ist für alle da! Er ist ein Zentrum für unser Erzbistum, was auch eine stärkere Identifikation ermöglicht. Ich freue mich, dass der Dom so schön geworden ist und so viele gespendet haben - selbst Personen, die mit Kirche gar nichts zu tun haben.

KNA: Was ist Ihr größter Geburtstagswunsch?
Thissen: Dass möglichst viele Menschen auf die Spur Christi geführt werden, denn ich bin überzeugt, dass die Lebensqualität, die im Christsein steckt, enorm hilfreich und unverzichtbar für alle Menschen ist. Ein anderer Wunsch geht vom Norden in die Welt: Von einem Tag zum anderen sind Milliarden an Geldmitteln für die Wirtschaft da. Ich finde das richtig, aber ich finde es nicht richtig, dass wir im Kampf gegen Hunger und Krankheit nicht auch mehr Mittel und auch schneller zur Verfügung haben.