Erzbischof Marx über den Krieg im Gazastreifen

"Keine Schwarz-Weiß-Zuweisungen"

Mit einem eindringlichen Friedensappell haben neun Bischöfe aus Europa und den USA am Donnerstag ihre Reise ins Heilige Land beendet. Die deutsche Delegation leitete der Münchner Erzbischof und stellvertretende Vorsitzende der Kommission Weltkirche, Reinhard Marx. Im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) forderte er am Donnerstag in Jerusalem nicht nur ein Ende der Gewalt, sondern auch echte politische Perspektiven für den Gazastreifen.

 (DR)

KNA: Herr Erzbischof, Ihr Besuch war überschattet von dem Krieg in Gaza - die geplanten politischen Spitzengespräche konnten nicht stattfinden. Hat die Reise trotzdem etwas gebracht?
Marx: Doch, ich bin sehr froh, dass wir da waren. Wir sind mit den Problemen vor Ort eng konfrontiert worden und haben gespürt, wie notwendig es war, gerade jetzt zu kommen. Dass es in den Jahrzehnten, die ich nun schon ins Heilige Land reise, kaum eine substanzielle Besserung der Lage gibt, ist natürlich immer auch deprimierend. Da ist ein ständiges Auf und Ab. Aber gerade als Christen haben wir in solch schwierigen Situationen ja die Aufgabe, Hoffnung einzubringen. Wir halten weiter an dem Glauben fest, dass Frieden auf der Grundlage von Gerechtigkeit möglich ist.

KNA: Wird Ihre Stimme überhaupt gehört?
Marx: Den Eindruck habe ich schon. Besonders die Christen haben sehr dankbar auf unsere Anwesenheit reagiert. Die jungen Leute nehmen sensibel wahr, ob die Weltkirche präsent ist und an die Zukunft dieses Landes glaubt. Besuche wie der unsere zeigen ihnen, dass wir sie nicht vergessen.

KNA: Sie haben auch mit dem Pfarrer von Gaza-Stadt, Manuel Musallam, telefoniert. Wovon hat er Ihnen berichtet?
Marx: Von der dramatischen humanitären Situation dort - wenn irgendwo Krieg ist, wenn Bomben fallen, wenn Wasser und Strom fehlen, dann leidet darunter vor allem die Zivilbevölkerung, die Kinder und Frauen. All das hat er sehr drastisch beschrieben. Und deswegen ist es wichtig, dass endlich die Waffen schweigen, damit systematisch humanitäre Hilfe ins Land kommen kann. Ein solches Land muss ja aufgebaut werden. Das ist das eine.

KNA: Was ist noch nötig?
Marx: Das andere ist natürlich, politische Perspektiven zu entwickeln, damit dieses Land, Gaza und ganz Palästina, sich zu einem Staat entwickeln kann. Das war vor Ausbruch dieses Krieges nicht möglich, und das ist sicher auch eine der Ursachen für die Eskalation. Ich will da kein letztes politisches Urteil fällen, aber wenn Menschen in einem schmalen Landstrich eingepfercht sind, wenn da eine totale Abhängigkeit von anderen ist und nichts sich entwickeln kann - dann ist das einfach unzumutbar. Und darum richtet sich unsere dringende Bitte an Israel und die Palästinenser, aber auch an die arabischen Staaten, die Europäische Union und die USA mitzuhelfen, dass nach diesem hoffentlich bald zu Ende gehenden Krieg Perspektiven entwickelt werden. Dass nun wirklich die Idee der zwei Staaten Israel und Palästina konkreter vorangetrieben wird.

Gerade im Gazastreifen muss eine politische Zukunft her. Die Situation dort ist nicht erst jetzt, sondern war auch vor Ausbruch der Kämpfe inakzeptabel.

KNA: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat nach Ausbruch des Krieges die alleinige Schuld an der Eskalation der Hamas zugewiesen. Wie sehen Sie das?
Marx: Je näher man diesem Konflikt kommt, je länger man den Kontakt mit dem Heiligen Land und seinen Bewohnern hält, desto schwieriger wird es mit Schwarz-Weiß-Zuweisungen. So einfach sind die Dinge nicht. Israel hat das Recht auf Selbstverteidigung, wer wollte das bezweifeln? Aber das ist ja noch nicht die Antwort auf die Frage, wie es hier weitergeht und wo die Ursachen des ganzen Konfliktes liegen. Was kommt nach der Gewalt? Gewalt ist keine Antwort, von wem auch immer sie ausgeht, das muss man deutlich unterstreichen. Und da fehlen sowohl die politischen Konzepte als auch der Wille, wirklich den anderen, also hier Palästina, zu einem Staat werden zu lassen, der souverän und dann auch in guter Nachbarschaft mit Israel existieren kann. Unsere Appelle gehen also an beide Seiten. Man muss länger auf die Situation schauen und auch nachhaltiger, was danach kommt.

KNA: Die Bilder aus Gaza gehen um die Welt, und viele sind schockiert über das Ausmaß des Leids. Sehen Sie die Gefahr, dass das einen latenten Antisemitismus schüren könnte?
Marx: Man muss immer unterscheiden zwischen dem, was der Staat Israel tut, und dem, was Juden in der ganzen Welt bedeuten. Eine totale Identifizierung ist vielen Juden in der Welt auch nicht recht. Beides gehört zwar eng zusammen: Das Schicksal des jüdischen Staates wird jeden Juden irgendwie auch persönlich betreffen. Und wenn Israel existenziell gefährdet wäre, dann wäre die ganze Staatengemeinschaft aufgerufen, für Israel einzutreten. Jeder, der das Existenzrecht Israels bestreitet, kann nicht ernsthaft in die Staatengemeinschaft integriert werden. Da bin ich ganz einer Meinung mit der Bundesregierung. Wir sollten aber aufpassen, dass dieser Konflikt nicht benutzt wird, und zwar von verschiedenen Seiten. Die Interessen sind vielfältig, die Bilder werden instrumentalisiert. Da muss man sehr aufpassen. Es wäre verheerend, wenn ein solcher Konflikt als Vorwand für den Antisemitismus benutzt würde, auch wenn manche das sicher versuchen. Das würde ich strikt bekämpfen.

KNA: Allerdings gibt es jüdische Organisationen, die hinter jeder Kritik an der Politik Israels Antisemitismus wittern.
Marx: Eine solche Gleichsetzung wäre sicher falsch. Man kann nicht die Politik eines demokratischen Staates wie Israel einfach identifizieren mit dem Judentum. Auch wenn es da eine außergewöhnlich enge Verbindung gibt. Viele Juden empfinden die Angst, dass die Existenz Israels bedroht sein könnte, unmittelbar auch für sich selbst. Aber es muss möglich bleiben, die konkrete Politik Israels zu kritisieren.

KNA: In Ihrer Abschlusserklärung haben Sie die Christen in der Welt zu Pilgerreisen ins Heilige Land aufgerufen. Viele haben jedoch Bedenken wegen der aktuellen Krise. Sind Pilgerfahrten derzeit nicht zu riskant?
Marx: Wir haben unseren Aufruf gut bedacht. Wir wollen ja die Leute
nicht in untragbare Risiken hineinführen. Aber Israel und Palästina, ausgenommen natürlich der Gazastreifen und seine Grenzregion, sind im Moment sicher - das wird das Auswärtige Amt wohl auch so sehen. Deshalb wäre es nicht gut, jetzt in einer zu schnellen Reaktion alle Pilgerreisen zu stoppen. Das geht immer zu Lasten der Menschen vor Ort - vor allem der Christen, die im Wesentlichen davon leben, dass Pilger kommen. Ich kann derzeit keine wirkliche Gefährdung für
Wallfahrer erkennen, die sich nach Galiläa, Jerusalem und Bethlehem
aufmachen.