domradio.de: Herr Erzbischof, was halten Sie von der Kandidatin Bachelet?
Ezzati: Ich habe ihr gegenüber höchsten Respekt. Ich glaube, dass sie viel Erfahrung mitbringt und zwar nicht nur was die Regierungsgeschäftes des Landes anbelangt, sondern sie kennt auch die Vereinten Nationen. In Chile wird sie allgemein respektiert und wertgeschätzt. Das geht auch aus den Wahlbefragungen klar hervor.
domradio.de: Schon in den Biografien der beiden Kandidatinnen spiegelt sich die dunkle Diktatur-Vergangenheit Chiles. Welche Rolle spielt das Erbe der Pinochet-Zeit in Ihren Augen heute noch?
Ezzati: Zum 40. Jahrestag des Staatsstreichs haben wir Bischöfe in Chile eine Erklärung abgegeben. Darin stellen wir fest, dass die Wunden auch nach 40 Jahren noch offen sind. Und dass der Weg, diese Wunden zu heilen, derselbe ist, denn die Bischöfe schon 1973 direkt nach dem Putsch vorgeschlagen haben: Wir müssen die Wahrheit hören. Wir müssen die Wiederversöhnung vorantreiben – und die kann nur aus der Gerechtigkeit hervorgehen. Aber wir glauben auch, dass die Wiederversöhnung nicht nur Wahrheit und Gerechtigkeit braucht, sondern auch Großherzigkeit eines jedes einzelnen. Solange es noch immer Menschen gibt, die nicht wissen, was aus ihren Lieben geworden ist, wird es keine völlige Wiederversöhnung geben.
domradio.de: Denken Sie denn, dass Bachelet das Zeug hat, den Aussöhnungsprozess voranzutreiben?
Ezzati: Sie war ja schon mal Präsidentin. Und ich glaube, sie kann diese Wiederversöhnung nicht alleine schaffen, das ist eine Aufgabe für die ganze Gesellschaft, für alle. Ohne die Unterstützung der Zivilgemeinschaft wird das sehr schwer...
domradio.de: Eine weitere Herausforderung für die künftige Präsidentin ist die Reform des Bildungssystems. Schließlich laufen die Studenten Chiles schon seit über zwei Jahren Sturm gegen die Privatisierung im Bildungsbereich. Für wie berechtigt halten Sie deren Anliegen?
Ezzati: Ich verstehe, dass die Studenten auf die Bildungsproblematik aufmerksam machen. Manchmal übertreiben sie in ihren Mitteln und lassen den notwendigen Respekt vermissen. Aber abgesehen davon stützen sich die Studentenproteste auf eine Wahrheit, die wir sehen müssen. Wir können nicht gleichgültig bleiben angesichts ihrer Forderungen, die eigentlich ihre Rechte sind – was die Qualität der Ausbildung angeht, was den Zugang zur Ausbildung für alle anbelangt. Und was eine höhere Bildung betrifft, die jeden einzelnen ganzheitlich und als Person fördern soll. Wir müssen als Erwachsene die Sprache der Jungen verstehen lernen. Und wir müssen mehr auf die Essenz dessen, was sie uns mitteilen, schauen und weniger auf die Form. Und ich bin sicher, dass der Schrei der jungen Leute nach einer besseren Bildung für alle seine Berechtigung hat. Wir müssen ihnen gut zuhören – und nach einer Antwort suchen.
domradio.de: Angenommen, Michelle Bachelet, entscheidet die Wahl am Sonntag tatsächlich für sich – was möchten Sie Ihr auf den Weg geben?
Ezzati: Wenn sie tatsächlich gewählt wird, wünsche ich ihr, dass es ihr gelingt, eine Präsidentin aller Chilenen zu sein und dabei das Gruppen-Denken zu überwinden. Dass sie sich für das Allgemeinwohl einsetzt. Und dass sie in ihrem Regierungsprogramm die Ärmsten und Ausgeschlossensten der Gesellschaft im Blick hat. Dass sie Familien fördert, dass sie die Bildung fördert und dass sie einen Lebensstil vertritt, der nicht auf Materialismus basiert, sondern auf Werten und Erfahrungen. Dass sie zur Schirmherrin einer Gesellschaft wird, die Solidarität und Gemeinschaft lebt – trotz aller inneren Spannungen, die es natürlich gibt.
Das Interview führte Hilde Regeniter.