Experte: Demonstrationen in Belarus so nicht abzusehen

"Erstmals eine komplette Gesellschaft"

​Seit mehr als einer Woche gibt es in Belarus teils gewalttätige Zusammenstöße zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften. Der zuständige Länderkoordinator des Malteser-Hilfsdiensts, Michael Daemen, über die aktuelle Lage.

Proteste in Belarus / © Dmitri Lovetsky (dpa)
Proteste in Belarus / © Dmitri Lovetsky ( dpa )

KNA: Der Präsident von Belarus, Alexander Lukaschenko, ist seit 1994 an der Macht und gilt als "Europas letzter Diktator". Unterdrückung der Opposition und Wahlbetrug wurden ihm auch schon in der Vergangenheit vorgeworfen. Warum fällt die Reaktion diesmal so heftig aus?

Michael Daemen (Länderkoordinator für Belarus beim Malteser-Hilfsdienst): Um ehrlich zu sein, ist das auch für mich ein unerwartetes Phänomen. Die Demonstrationen finden in allen Großstädten des Landes statt und sind quasi zum Selbstläufer geworden. Das hätte man so vor einer Woche nicht erwartet.

KNA: Kann eventuell die Corona-Pandemie zur Verschärfung der Situation beigetragen haben?

Daemen: Das könnte man durchaus so interpretieren. Die Regierung in Minsk hat lange Zeit kaum über das Virus gesprochen und es, wenn doch, kleingeredet. Das hat sich gerächt, als die Fallzahlen gestiegen sind. Corona schwächt die Wirtschaft weltweit - und das Sozialsystem in Belarus gehörte schon zuvor nicht zu den stärksten. Durch die Krise sind die Arbeitslosenzahlen gestiegen, ohne dass es eine wirtschaftliche Absicherung für die Menschen gibt. Die sozial Schwachen leiden deshalb besonders.

KNA: Ist die Situation also so dramatisch, wie sie in den deutschen Medien derzeit dargestellt wird?

Daemen: Das kann man schon so sagen. Wir stehen in regelmäßigem Kontakt zu unseren Partnern vor Ort. Eine Mitarbeiterin hat mir nun erzählt, dass sie ihren Kindern klare Anweisungen gegeben hat, sofort die Großeltern zu benachrichtigen, sollten die Eltern von einer Demonstration nicht nach Haus kommen, etwa weil sie verhaftet wurden. In diesem Fall holen die Großeltern die Kinder aufs Land. Die Demonstranten sind sich der Gefahr also durchaus bewusst.

KNA: Bei den Protesten sollen schon Demonstranten mutmaßlich von Sicherheitskräften erschossen worden sein. Zumindest gibt es viele Verletzte. Haben sie weitere Verfolgung zu fürchten?

Daemen: Wie so vieles in Belarus ist das derzeit nicht absehbar. Erst mal sind sie ins Krankenhaus gekommen und nicht in Haft. Allerdings ist die Versorgungslage in den Krankenhäusern nicht mit der in Deutschland zu vergleichen. Auch die Familien helfen mit. Die Caritas, unser Partner vor Ort, versorgt zudem Verletzte in mobilen Einrichtungen.

KNA: Müssen Sie mit Einschränkungen ihrer Arbeit rechnen?

Daemen: Das war in der Vergangenheit zumindest nicht der Fall. Wir helfen in Belarus vor allem Kindern, vermitteln Pflegefamilien und führen Projekte in Kinderheimen durch. Zuletzt waren wir aber größtenteils im ländlichen Bereich aktiv, wo vor allem ältere Menschen wohnen, die zur Risikogruppe für das Virus zählen. Hier haben wir etwa Masken und Desinfektionsmittel verteilt.

KNA: Am Mittwoch kamen die Staatschefs der EU zu einer Videokonferenz zusammen, um über Belarus zu beraten. Sucht die Opposition im Land den Anschluss an den Westen?

Daemen: Es ist schwer, von einer Opposition im herkömmlichen Sinne zu sprechen; dass es etwa einen einzigen Oppositionsführer gäbe, der vorneweg geht. Zudem lässt sich auch das Spektrum der Demonstranten kaum fassen, was Alter und sozialen Status angeht. Allerdings, so mein persönlicher Eindruck, tendiert die Bewegung im Ganzen nicht klar zum Westen - und ebenso wenig zu Russland. Die Belarussen wollen vor allem demokratisch, frei und unabhängig von der Einmischung anderer Staaten sein. Ein Bekannter von dort sagte mir neulich, wie stolz er gerade auf sein Land sei. Viele gingen auf die Straße, und vor allem zeigten alle, egal ob alt oder jung, arm oder reich, eine große Solidarität untereinander. Es gebe zum ersten Mal seit langem eine einige, komplette Gesellschaft.

Das Interview führte Johannes Senk.


Quelle:
KNA