Erste Aktionswoche für Kinder aus Problemfamilien

Das soziale Erbe der Sucht

Experten schätzen die Zahl der Kinder aus suchtbelasteten Familien in Deutschland auf rund 2,5 Millionen. Tendenz steigend. Aus diesem Anlass startete nun erstmalig eine bundesweite Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien.

Autor/in:
Karin Wollschläger
 (DR)

Es ist fast schon ein Ritual: Lara zupft auf dem Heimweg von der Schule nacheinander die Blättchen von einem Gänseblümchen ab. «Sie hat getrunken. Sie hat nicht getrunken. Sie hat getrunken.» Wenn die 14-Jährige mittags nach Hause kommt, weiß sie nie, was sie erwartet. Hat die Mutter wieder getrunken? Gibt es ein Mittagessen? Wie sieht die Wohnung aus?

Lara ist kein Einzelfall. Experten schätzen die Zahl der Kinder aus suchtbelasteten Familien in Deutschland auf rund 2,5 Millionen. Tendenz steigend. In mittlerweile jeder siebten Familie spielt Sucht eine Rolle. Und: Sucht ist immer auch eine Familienkrankheit - mit unterschiedlichsten Einflüssen auf jedes einzelne Familienmitglied.

Aus diesem Anlass startet am Sonntag erstmalig eine bundesweite Aktionswoche für Kinder aus Suchtfamilien, organisiert von einer Hilfsinitiative «Nacoa». Das Ziel: Die Öffentlichkeit sensibilisieren und mehr Hilfsangebote für betroffene Kinder schaffen.

Problem Tabuisierung
«In der Regel wird in der Familie die Problematik tabuisiert», berichtet Cäcilia Rehring vom Caritasverband für den Kreis Coesfeld. Wie auch andere lokale Einrichtungen des katholischen Wohlfahrtsverbandes engagieren sich die Coesfelder bei diesem Thema seit Jahren. Für betroffene Kinder erzeuge die Tabuisierung Einsamkeit, Druck und Enttäuschung. Rehring kennt zahlreiche solcher Schicksale. Die Sozialarbeiterin und Gestalttherapeutin arbeitet nicht nur mit suchtkranken Eltern, sondern bietet den Kindern auch spezielle Angebote an. Ihre Erfahrung: «Suchtkranke Eltern lieben ihre Kinder und wollen, dass es ihnen gutgeht. Sie spüren wie ihre Kinder unter der Sucht leiden.» Allein bleiben sie jedoch oft hilflos, wie Rehring und ihr Team aus den Therapiesitzungen wissen.

Daher spricht die Caritas mit den Eltern das Thema gezielt an. «Es ist extrem wichtig, dass die Kinder möglichst früh Unterstützung bekommen», sagt Rehring. Je eher, desto größer die Aussicht auf eine gesunde Entwicklung. Denn Sucht ist in gewisser Weise eine «Erbkrankheit». Etwa 70 Prozent der Menschen mit Abhängigkeitsproblemen stammen aus einer suchtbelasteten Familie. «Trotzdem gibt es kaum Gelder für spezielle Hilfen für Kinder», kritisiert Rehring. Nur rund 100 Beratungsstellen bundesweit hielten entsprechende Angebote bereit.

«Sie erleben keine verlässlichen emotionalen Bindungen"
Die Kinder leiden unter den extremen Bedingungen zu Hause - und fühlen sich dafür verantwortlich. «Sie erleben keine verlässlichen emotionalen Bindungen, was später häufig zu großen Beziehungsschwierigkeiten und Ängsten führt», erzählt Rehring. «Sie sind ständig auf Beobachterposten, um möglichst früh wahrzunehmen, welche Katastrophe als nächstes hereinbricht.» So versuchen sie, Probleme auszugleichen: Wenn die Mutter morgens bereits getrunken hat, machen die älteren Kinder Frühstück und versorgen kleinere Geschwister mit. Aus der Not heraus verfügen sie manchmal über viele Fähigkeiten zur Lebensbewältigung. «Sie zeigen oft Ausdauer und große Hilfsbereitschaft», so Rehring.

Die Sozialarbeiterin bietet bei der Caritas Coesfeld neben Eltern-Kind-Gesprächen und der Möglichkeit zu Einzelgesprächen auch ein Gruppenangebot für Kinder und Jugendliche an. Auf dem Programm stehen beispielsweise Konflikttraining, spielerisches Lernen von Abgrenzung oder Malen zu Themen wie Traurigkeit und Wut, aber auch einfach mal, gemeinsam Freude und Spaß zu erleben.

Dass positive Veränderungen - sogar nach relativ kurzer Zeit - möglich sind, haben die Angebote der Caritas gezeigt. «Die Kinder und Jugendlichen gehen sehr sensibel miteinander um, dadurch entsteht viel Vertrauen und Offenheit», berichtet Rehring. Nicht wenige reden zum ersten Mal über ihre Probleme und merken, wie gut ihnen das tut. Viele der Kinder und Jugendlichen bekommen Mut, ihr Leben neu in die Hand zu nehmen. So auch Lara. In der Schule hat sie sich gefangen und hat sich einen neuen Freundeskreis aufgebaut, der sie stützt und stärkt. Ein Beispiel dafür, dass Sucht kein «soziales Erbe» sein muss.