Erinnerungen an die Tage vor dem Beginn des 2. Weltkriegs

Der Sommer vor der Katastrophe

Was fühlten und dachten die Europäer vor dem Beginn der Katastrophe im Sommer 1939? Für den Dokumentarfilm "Sommer '39" (21.00 Uhr auf ARTE) haben sich Mathias Haentjes und Nina Koshofer auf Spurensuche durch die Archive begeben. Sie haben nach Filmen und Bildern gesucht, die zeigen, wie man in Spanien, Frankreich, Italien, England, den Niederlanden, Polen, Österreich, der Sowjetunion und in Deutschland diesen Sommer erlebt hat.

 (DR)

Eine infame Lüge markierte für die Deutschen den Beginn des Zweiten Weltkrieges. Mit schnarrender Stimme erklärte Hitler am 1. September 1939 in seiner im Rundfunk übertragenen Rede:
«Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurück geschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten.» Aus dem Überfall auf das Nachbarland macht er eine Verteidigungsaktion. Noch ahnt die Welt nicht, dass dies der Auftakt ist zu einem weltumspannenden Krieg, in dem über 55 Millionen Menschen ihr Leben verlieren werden. Sechs Jahre später wird Europa in Schutt und Asche liegen, für Jahrzehnte gezeichnet.

Der Film «Sommer '39» wirft einen Blick zurück auf heiße Tage, die mit wolkenlosem Himmel zum Genießen einluden. Dabei waren die drohenden Anzeichen eigentlich nicht zu übersehen. Schon die ersten Bilder zeigen, dass diese Dokumentation anders ist als die üblichen Geschichtsfilme. Bunte Bilder vom Strandleben an der Ostsee werden ergänzt durch den Wetterbericht für Berlin, Ostpreußen und Schlesien. Es ist ungewöhnlich heiß, auf den Sandburgen flattern rote Hakenkreuzflaggen.

Viele kleine Schätze wurden bei der aufwändigen Sichtung des Archivmaterials gehoben. Ein Jahr lang waren Mitarbeiter damit beschäftigt, Zeugnisse des Alltagslebens aufzuspüren, die die bekannten Filmdokumente von den historischen Ereignissen ergänzen. Dazu kommen Aussagen von Zeitzeugen. Die meisten von ihnen sind in ihren Heimatländern bekannte Persönlichkeiten und waren 1939 zwischen 10 und 29 Jahre alt. Sie erlebten diese Tage sehr unterschiedlich. Vieles hing davon ab, welcher Nationalität man angehörte und wo man lebte.

Während der spätere britische TV-Komiker Dennis Norden (damals 17) einräumt, er habe nur Mädchen und Musik im Kopf gehabt, erinnert sich der damals 19-jährige, von Berlin nach Warschau deportierte, Marcel Reich-Ranicki daran, dass man den Krieg herbeisehnte, damit der Nervenkrieg endlich ein Ende habe. Die spätere Resistance-Kämpferin und Journalistin Madeleine Riffaud (damals 15) sagt über Frankreich, man habe im ganzen Land nicht von einem neuen Krieg wissen wollen. Weitere Zeitzeugen sind Janine Phillips, die 1939 in Polen als Zehnjährige Tagebuch schrieb; die Journalistin Traudl Lessing (damals 14); die Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich-Nielsen (damals 22); der Schriftsteller Pavel Kohout, (damals 10); die Chemikerin Elena Strum (damals 16) und der ehemalige polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewski (damals 17).

Der Film ermöglicht es einzutauchen, in die uns oft nur schwer verständliche Vergangenheit. «Sommer '39» macht spürbar, dass Geschichte mehr ist als nur abstraktes Wissen. Vielmehr beinhaltet sie auch Gefühle, Ideen, Hoffnungen und Erfahrungen von Menschen.

Entstanden ist der Beitrag auf Anregung des Autors und Filmemachers Werner Biermann. Bereits 2004 hatte er für den ARTE-Schwerpunkt zum 90. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs mit «Der Untergang des alten Europa» eine ähnliche Dokumentation gedreht. Die ARTE-Beauftragte des WDR, Sabine Rollberg, nennt ihn den geistigen Vater des Projekts. Biermann ist auch Autor des im Juli erschienenen Begleitbuches «Sommer '39».

Hinweis: «Sommer '39», Dokumentarfilm von Mathias Haentjes und Nina Koshofer. ARTE, Mi 12.8., 21.00 - 22.30 Uhr und WDR, Mo. 31.8., 23.15 - 00.45 Uhr.