Die Tunesier entscheiden über ihr künftiges Staatsoberhaupt: Am Sonntagmorgen begann in dem nordafrikanischen Land die zweite Runde der Präsidentenwahl. Vier Jahre nach der Jasminrevolution ist es das erste Mal, dass der Staatschef bei einer freien und direkten Abstimmung gewählt wird.
Überschattet wurde der Wahltag von einem bewaffneten Übergriff auf ein Abstimmungsbüro in der Provinz Kairouan südlich von Tunis. Dabei wurde nach Angaben des Verteidigungsministeriums in der Nacht zum Sonntag ein Angreifer getötet und ein Soldat verletzt.
Wenige Wähler
In den Wahllokalen in der Hauptstadt Tunis blieben die Menschenmassen am Morgen zunächst aus. Lokale Fernsehsender strahlten zudem Bilder aus, wonach auch in anderen Abstimmungszentren wenig Betrieb war.
Favorit ist der 88 Jahre alte langjährige Regierungspolitiker Beji Caid Essebsi, der im November die erste Runde gewonnen hatte. Gegen ihn tritt der Übergangsstaatschef Moncef Marzouki an.
Enge Konkurrenten
Es wird ein knappes Rennen: Im ersten Wahlgang mit 27 Kandidaten hatte Sieger Essebsi etwa sechs Prozentpunkte Vorsprung. Marzouki hofft nun auf Stimmen der Islamisten. Denn die islamistische Ennahda-Partei - zweitstärkste Fraktion im Parlament - hat keinen eigenen Kandidaten aufgestellt.
Der agile Essebsi ist Chef der Allianz Nidaa Tounes, die liberale und säkulare Kräfte, jedoch auch Anhänger des 2011 gestürzten Machthabers Zine el Abidine Ben Ali vereint. Sie gewann im Oktober die Parlamentswahl. Nach der Jasminrevolution war Essebsi mehrere Monate Ministerpräsident.
Der Jurist sieht sich als Erbe des Staatsgründers Habib Bourguiba, der das Land nach der Unabhängigkeit von Frankreich 1956 autoritär regierte, zugleich aber die Polygamie aufhob, Mann und Frau gleichstellte und die islamische Scharia, anders als in anderen arabischen Ländern, nicht zur Quelle der Gesetzgebung erhob.
Innere Sicherheit und Menschenrechte
Essebsi war einst Berater Bourguibas und dessen Innen-, Außen- und Verteidigungsminister. Viele Tunesier schätzen seine Lebenserfahrung. Im Wahlkampf konnte er mit dem Thema Innere Sicherheit punkten. Tunesier müssten wählen, mahnte er: Rechtsstaat und Fortschritt oder Salafisten und Dschihadisten.
Gegenkandidat Marzouki engagierte sich lange Jahre für Menschenrechte. In Frankreich studierte er Medizin, erlangte den Doktortitel, später wurde er in Tunesien Universitätsprofessor. Wegen seiner Opposition zu Langzeitherrscher Ben Ali durfte er später nicht mehr an staatlichen Universitäten lehren, mehrmals kam er ins Gefängnis. Schließlich ging er ins französische Exil. Marzouki warnt vor einem Machtmonopol der Nidaa Tounes, sollte Essebsi in den Präsidentenpalast in Karthago einziehen. Im Wahlkampf suchte er die Nähe von Islamisten und verärgerte damit weltliche Tunesier.
Geburtsland des Arabischen Frühlings
Tunesien ist das Geburtsland des Arabischen Frühlings. Nach dem Sturz Ben Alis begannen in Ägypten, Libyen, Syrien und anderen Ländern Massenproteste. Die Tunesier haben seitdem vieles erreicht: Trotz mehrerer politischer Krisen gibt es inzwischen eine neue Verfassung, ein neues Parlament und bald auch den ersten demokratisch gewählten Präsidenten.
Die Wahl schließt einen nach dem Arabischen Frühling 2011 begonnenen Demokratisierungsprozess in Tunesien ab. Etwa 100.000 Soldaten und Polizisten sind am Wahltag im Einsatz. Mehr als 100 Wahllokale in Gebieten, die als unsicher gelten, öffnen später und schließen früher.