Erdbebenforscher Pohl zur Situation in Haiti

Keine Alternative zu einem Neuanfang

Die Katastrophe von Haiti auch als Chance für einen Neuanfang sehen - dafür hatte der Bonner Geograf und Erdbeben-Experte Jürgen Pohl nach dem Erdbeben vom Januar plädiert.

 (DR)

Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) äußerte er sich am Sonntag in Bonn zu den Erfolgen und Mängeln beim Wiederaufbau. Pohl hat Erfahrung mit dem Wiederaufbau-Management nach schweren Erdebeben: Am Beispiel des norditalienischen Friaul erforschte er mit Kollegen die langfristigen Effekte nach einem Erdbeben im Jahr 1976. Der Wiederaufbau erstreckte sich über mehr als ein Jahrzehnt.

KNA: Herr Professor Pohl, Sie haben nach dem Erdbeben auch von einer Chance auf einen grundlegenden Neuanfang in Haiti gesprochen. Gibt es irgendwelche Anzeichen dafür, dass das gelungen sein könnte?

Pohl: Allein durch die strukturellen Auswirkungen des Erdbebens gibt es gar keine Alternative zu einem grundlegenden Neuanfang. Nicht das Erdbeben selbst hat schließlich die Todesopfer verursacht, sondern die Sekundärfolgen, etwa die eingestürzten Gebäude, aber auch die hohe Bevölkerungskonzentration in der Metropolregion Port-au-Prince sowie die fehlenden Maßnahmen zur Katastrophenvorbeugung.

Gegenwärtig ist es noch zu früh, die Umsetzung des Wiederaufbaus verlässlich zu analysieren. Zudem ist es nicht ratsam, ohne eigene Feldforschung vor Ort eine Bewertung der Situation vorzunehmen.

KNA: Warum ist die Bewertung so schwierig?
Pohl: Haiti wurde schon vor dem Erdbeben in allen sozioökonomischen Indikatoren als gescheiterter, instabiler Staat charakterisiert. Selbst wenn man nur die ökonomischen Schäden betrachtet, entsprechen diese dem gesamten haitianischen Bruttoinlandsprodukt von 2009. Der Optimismus der Menschen ist groß und bewundernswert, aber die Strukturen sind deprimierend.

KNA: Sie haben von vier Phasen des Wiederaufbaus gesprochen. In welcher dieser Phasen ist Haiti jetzt?
Pohl: Wenn man - mit aller Vorsicht gesagt - den «üblichen» Zeitplan zugrunde legt, liegt Haiti zurück. Dies lässt sich durch die Dimension des Erdbebens sowie die vorher schon prekäre Lage erklären. Es kann noch nicht von der abschließenden Wiederherstellung provisorischer Lebensverhältnisse, also der zweiten Phase, die man nach einem halben Jahr normalerweise erreicht, gesprochen werden.

KNA: Es gibt Schuldzuweisungen: Die UNO beklagt, dass Regierungen ihre Zusagen nicht einhalten. Hilfsorganisationen sagen, die haitianische Regierung sei gelähmt. Woran liegt es, wenn die Hilfe nicht funktioniert?
Pohl: Regierungen, die die Zusage von finanziellen Mitteln nicht einhalten, sind kein spezifisches Haiti-Problem. In solchen Ausnahmesituationen geht immer viel schief. Die großen Verluste von Krankenhäusern, Polizeiwachen, Schulen, Universitäten, Ministerien und Kirchen, generell der öffentlichen Infrastruktur, hemmen natürlich die Bemühungen um Soforthilfe, Sicherheit und Wiederaufbau..

KNA: Nach dem Erdbeben haben sich besonders die USA ins Zeug gelegt....
Pohl: Ziel der USA war primär die Fokussierung auf Soforthilfe und die Koordinierung der anlaufenden internationalen Hilfsmaßnahmen. Mittlerweile haben vermehrt Nichtregierungsorganisationen das Handeln übernommen.

KNA: Sie haben für eine größtmögliche Teilhabe der Bevölkerung und der Zivilgesellschaft plädiert. Ist das möglich geworden?
Pohl: Im kleinen Rahmen wirkt natürlich auch die lokale Bevölkerung mit. Auf offizieller Ebene wurde aber auf die Partizipation der Bevölkerung bei der Planung und Konzeption weitgehend verzichtet.

Unmittelbar nach der Katastrophe hatte die Bevölkerung andere «Sorgen» als die Planung des Wiederaufbaus. Hier sind nicht nur die Todesopfer zu erwähnen, sondern auch die mehr als 300.000 Verletzten und fast 1,5 Millionen Obdachlose. In weiteren Planungsphasen könnte sich allerdings noch die Gelegenheit dazu bieten, Teile der Bevölkerung einzubeziehen.

KNA: Was lässt sich aus alledem lernen für künftige Erdbeben oder Naturkatastrophen in dem Land?
Pohl: Nach dem Leitbild «nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe» muss die Anpassung der Bauweise hin zu «erdbebensicheren» Gebäuden vorangetrieben werden. Zudem müssen Wege gefunden werden, die Bevölkerungskonzentration in der vom Erdbeben betroffenen Region zu verringern. Dabei sind die eigentlich unvereinbaren Positionen zu berücksichtigen, dass der Wiederaufbau einerseits schnell und billig, andererseits aber auch «erdbebensicher» sein soll.

Interview: Christoph Arens