EKD-Ratspräsident Huber kritisiert Bildungssystem - Besorgnis über sozialen Frieden

"Armut ist in Deutschland erblich"

Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, attackiert das deutsche Bildungssystem. Dieses trage nicht genug zum Abbau von Ungleichheit bei, betonte Huber in einem ddp-Interview. Armut sei dadurch "erblich". Außerdem öffne sich die "Schere zwischen Arm und Reich" immer weiter.

 (DR)

Der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, attackiert das deutsche Bildungssystem. Dieses trage nicht genug zum Abbau von Ungleichheit bei, betonte Huber in einem ddp-Interview. Armut sei dadurch "erblich". Außerdem öffne sich die "Schere zwischen Arm und Reich" immer weiter. Mit dem Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz sprach ddp Korrespondent Jörg Säuberlich im Vorfeld der Tagung der EKD-Synode, die am 5. November in Würzburg beginnt.

ddp: Das Schwerpunktthema bei der Tagung der EKD-Synode in Würzburg lautet "Gerechtigkeit erhöht ein Volk - Armut und Reichtum". Welche Hauptdefizite sehen Sie in diesem Zusammenhang in Deutschland?

Huber: Wir haben das große Glück, in einem reichen Land zu leben. Doch auch bei uns öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter. Seit dem Ende des 2. Weltkrieges ist der Anteil der Menschen, die von Armut bedroht sind, noch nie so schnell gestiegen wie in den letzten sieben Jahren. Er liegt inzwischen bei 17 Prozent der Bevölkerung.  

Menschen, die in Armut leben, bleibt zumeist die Chance auf umfassende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verwehrt. Dazu kommt, dass Armut in unserer Gesellschaft "erblich" ist: Unser Bildungs- und Ausbildungssystem trägt nicht genug zum Abbau von Ungleichheit bei. Für Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern ist es in aller Regel sehr schwere, qualifizierte Schulabschlüsse und damit eine Chance zu angemessener gesellschaftlicher Teilhabe  zu erhalten. Auf der anderen Seite erleben wir derzeit eine deutliche Zunahme von Reichtum an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide. Auch in dieser Hinsicht wird deshalb die Frage nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit gestellt.

ddp: Welche Gefahren drohen Ihrer Ansicht nach durch soziale Ungerechtigkeit und wachsende Armut?

Huber: Armut grenzt Menschen aus. Sie erleben die vorhandenen Ungleichheiten nicht mehr als reine Verschiedenheiten der Menschen, sondern als ungleiche Wertigkeiten. Gerade der Verlust des Arbeitsplatzes, einer der zentralen Gründe für Armut in unserem Land, ist oft verbunden mit dem deprimierenden Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden.

Wenn Menschen solches Ausgeschlossensein erleben, den Eindruck haben, nicht gebraucht zu werden, empfinden sie das als Entzug gesellschaftlicher Wertschätzung. Allzu leicht reagieren sie darauf durch eigene gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. So steigt die Anziehungskraft rechtsextremer Positionen; und es steigt ebenfalls die Gefahr, dass der soziale Frieden nachhaltig geschädigt wird.

ddp: Welche Hauptforderungen haben Sie beim Thema Gerechtigkeit an die Bundesregierung?

Huber: Eine gerechte Gesellschaft muss so gestaltet sein, dass möglichst viele Menschen in der Lage sind, ihre Begabungen zu erkennen, auszubilden und produktiv für sich selbst und andere einzusetzen. Eine gerechte Gesellschaft investiert, wo immer ihr das möglich ist, in die Fähigkeiten der Menschen. Deshalb steht das Bemühen um Bildung im Zentrum einer Gesellschaft, die auf Gerechtigkeit verpflichtet ist; Gerechtigkeit ist insofern Befähigungsgerechtigkeit.

Für die notwendige Reform des Bildungssektors ist ein aktiv gestalteter gesellschaftlicher Ausgleich nötig, welcher Menschen mit hohem Einkommen und Besitzer großer Vermögen stärker in die Verantwortung nimmt.

Von gleichem Gewicht ist eine Reform der Familienpolitik; sie muss einen Familienleistungsausgleich zum Inhalt haben, der vom Respekt für den Einsatz an Zeit, Geld und vor allem Liebe von Eltern für ihre Kinder geprägt ist.  Familien haben unsere ungeteilte Unterstützung verdient.

ddp: In Ihrer Weihnachtspredigt hatten sie von den Managern mehr Verantwortungsbewusstsein für ihre Beschäftigten gefordert. Hat sich seitdem Ihrer Ansicht nach etwas zum Positiven verändert?

Huber: Ein halbes Jahr ist eine kurze Zeitspanne auf dem Weg hin zu einer verantwortungsvollen Gestaltung globaler Wirtschaftsprozesse. Man muss auch respektieren, dass wir es hier mit komplexen Problemen zu tun haben. Mit Interesse nehme ich allerdings wahr, dass die gesellschaftliche und soziale Verantwortung von Managern auch von der Wirtschaft selbst und von der Politik immer nachdrücklicher thematisiert wird.

Im internationalen Vergleich zählt Deutschland zu den klaren Gewinnern der Globalisierung; trotzdem verlieren auch bei uns viele Menschen ihre Arbeit. Was wir brauchen, ist nicht nur mehr Verantwortungsbewusstsein bei den Managern als Gegengewicht zu einer vorrangig börsenorientierten Logik, sondern auch ein bewussteres Konsumentenverhalten.

Vieles geht billiger, aber im Effekt nur um den Preis von Arbeitsplätzen und auskömmlichen Löhnen - bei uns wie weltweit. Dieser Spirale kann sich unsere Gesellschaft nur entziehen, wenn sie durch bessere Bildung und Ausbildung möglichst viele dazu befähigt, anspruchsvollere und innovative Tätigkeiten zu übernehmen.

Aber zugleich muss sichergestellt werden, dass auch bei "einfacheren" Tätigkeiten durch Kombilohn-Modelle oder auf andere Weise ein angemessenes Auskommen sichergestellt wird. Die Verarmungsprozesse, von denen insbesondere ein Teil der Empfänger von "Hartz IV" betroffen ist, können und dürfen wir nicht hinnehmen.

ddp: Halten Sie die Solidarität zwischen den Bürgern für ausreichend - zum Beispiel auch zwischen jenen in den neuen und in den alten Bundesländern?

Huber: Ich bin dankbar für viele Initiativen, die sich Menschen in Not zuwenden. Aber Solidarität kann es nie ausreichend geben, besonders nicht in einer Gesellschaft, die von zunehmenden Ungleichheiten gekennzeichnet ist. Solidarität setzt jedoch Freiheit voraus: Die Freiheit, eigenverantwortlich zu handeln, ebenso wie die Freiheit, von sich selbst und den eigenen Ängsten abzusehen in dem Wissen, Teil einer tragenden Gemeinschaft zu sein.

Dazu gehört auch, die Lebenssituation der eigenen Nachbarn wahrzunehmen. In diesem Sinn wünsche ich mir durchaus auch noch bessere Nachbarschaft zwischen Ost und West in unserem eigenen Land. Häufig habe ich den Eindruck, dass die Vorstellungen voneinander noch immer zu undeutlich sind. Nur Menschen, die voneinander wissen, können auch füreinander einstehen. Und Menschen, die sich ihrer Teilhabe an der Gesellschaft sicher sind, werden auch verstärkt bereit sein, diese Gesellschaft in einer demokratischen, solidarischen und nachhaltigen Weise mitzugestalten.