Caritas-Flüchtlingshilfe warnt vor Folgen türkischer Militäroffensive

Eines der größten Dramen in der neueren Geschichte des Mittleren Ostens

Seit Beginn der türkischen Militäroffensive in Nordsyrien flüchten Hundertausende Menschen – wie in den Nordirak. Dort arbeitet die Caritas-Flüchtlingshilfe und warnt vor einem der größten Dramen in der neueren Geschichte des Mittleren Ostens.

Eine syrische Frau und ihre Kinder auf der Flucht vor der türkischen Militäroffensive / © Hussein Malla (dpa)
Eine syrische Frau und ihre Kinder auf der Flucht vor der türkischen Militäroffensive / © Hussein Malla ( dpa )

DOMRADIO.DE: Der Einmarsch der türkischen Truppen in Nordsyrien löst große Fluchtbewegungen aus. Zehntausende Menschen flüchten in den Nordirak und täglich werden es mehr. Wie haben Sie reagiert, als Sie hörten, dass sich die Amerikaner aus Nordsyrien zurückziehen und damit auch der Schutz für die Kurden wegfällt?

Rudi Löffelsend (Vorsitzender der Caritas-Flüchtlingshilfe Essen e.V.): Darüber habe ich mich sehr geärgert und war natürlich erschrocken, weil mir klar war, dass es auch für den Nordirak wieder losgeht.

DOMRADIO.DE: Die türkische Armee erobert die autonome Region Kurdistan in Nordsyrien. Was hat das für Folgen für den Nordirak?

Löffelsend: Geschätzt sind zwischen 200.000 und 300.000 Flüchtlinge aus dem Norden erst einmal südwärts gegangen. Aber da gibt es auch nicht so viel Platz. Mir war klar, dass sie dann Richtung Osten abbiegen und dann in die autonome Region Kurdistan im Irak. Das passiert jetzt auch zunehmend.

DOMRADIO.DE: Jetzt geht es zunächst einmal darum, die Grundversorgung für diese Flüchtlinge zu sichern. Gerade ist auch eine Delegation der Caritas-Flüchtlingshilfe im Nordirak. Sie stehen mit dieser Delegation in Kontakt. Wie ist die Situation vor Ort?

Löffelsend: Die Regionalregierung hat zwei leerstehende Camps, wo mal Flüchtlinge aus Mossul untegebracht waren, die aber jetzt zum großen Teil wieder zurück sind. Die Camps waren im Grunde aufgeben und werden jetzt wieder reaktiviert oder man versucht es, um dem ersten Ansturm zu begegnen. In der ersten Nacht waren so 200 bis 300, in der zweiten 600 und jetzt sind schon 6.000 Geflüchtete da.

Diese beiden Lager sind schon wieder voll. Und das geht jetzt wahrscheinlich so weiter, obwohl der Grenzübergang über den Fluss Tigris noch geschlossen ist. Aber es gibt viele Schleuser mit kleinen Booten, die die Leute über den Tigris, die Grenze, rüberbringen.

DOMRADIO.DE: Was können die Kollegen vor Ort tun, um den Menschen zu helfen?

Löffelsend: Sie sind in der allerfrühesten Phase von Hilfe, besorgen Lebensmittel, damit die Menschen etwas zu essen haben, Wolldecken, Matratzen und Unterlagen, damit sie schlafen können.

Nachdem der IS verjagt worden war, waren ja ganz viele internationale Organisationen dort tätig. Die sind aber alle wieder weg und jetzt steht die Regionalregierung erst einmal relativ alleine da - außer den UNO-Organisationen, die aber von permanentem Geldmangel geplagt werden, weil viele Geberländer zwar versprechen zu geben, es dann aber doch nicht tun.

DOMRADIO.DE: Wenn Sie auf Deutschland schauen, was wünschen Sie sich von den Politikern hier bei uns im Land?

Löffelsend: Da könnte ich ganz viel aufzählen. Die stecken den Kopf in den Sand, warten ab und da passiert eines der größten Dramen in der neueren Geschichte des Mittleren Ostens. Jetzt wäre auch von Seiten der Regierung eine große Hilfsaktion notwendig. Strukturen gibt es im Nordirak. Die Regionalregierung ist gut aufgestellt, gerade in Flüchtlingsfragen, weil die eine lange und intensive Erfahrung damit hat - aber ihr fehlt jetzt schlicht und ergreifend Geld. Man kann alles im Land besorgen. Man muss ja nicht extra große Konvois machen oder Flieger starten, aber es muss finanziert werden.

DOMRADIO.DE: Das heißt, die Hilfe vor Ort wäre durchaus zu gewährleisten. Aber es tut sich zu wenig?

Löffelsend: Im Moment. Politik ist ja nie so besonders schnell. Da gibt es viele Gremien, die darüber entscheiden müssen, manchmal ist die Not schon vorbei, bis wir entschieden haben. Aber jetzt müsste wirklich eine schnelle Hilfe erfolgen.

DOMRADIO.DE: Kann man das so sagen: Der türkische Einmarsch destabilisiert die Region gerade massiv?

Löffelsend: Ja, und das wird noch schlimmer werden. Ich bin gespannt, was bei dem Treffen zwischen Russlands Präsident Putin und dem türkischen Präsidenten Erdogan rauskommt. Jetzt sind die Großmächte mit im Spiel, was nicht unbedingt die Lage verbessert. Aber wir warten jetzt mal ab, ob nach den Ergebnissen ein weiterer Anstieg der Flüchtlingszahlen zu verzeichnen ist.

Das Interview führte Carsten Döpp.


Rudi Löffelsend / © Sonya Winterberg (KNA)
Rudi Löffelsend / © Sonya Winterberg ( KNA )
Quelle:
DR
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