Warum ein Kirchenbrand nicht nur religiöse Menschen erschüttert

Eine wahre Ikone

Wahrzeichen von Paris, historisch einzigartiges Bauwerk, architektonische Himmelsleiter: Das Feuer in Notre-Dame zu Beginn der Karwoche hat die Menschen in aller Welt schockiert. Experten sehen dafür mehrere Gründe.

Autor/in:
Paula Konersmann
Brand der Kathedrale Notre-Dame / © Corinne Simon (KNA)
Brand der Kathedrale Notre-Dame / © Corinne Simon ( KNA )

"Aller Augen hatten sich nach der Höhe der Kirche erhoben. Was sie da sahen, war etwas Ungewöhnliches. Auf dem Gipfel der höchsten Galerie, hoch oben über der Mittelrosette, war eine große Flamme zu sehen, die zwischen den beiden Glockentürmen mit Funkenwirbeln aufstieg, eine große, prasselnde und grimmige Flamme, von welcher der Wind zeitweilig eine Funkenwolke im Rauche davontrug."

Worte, die den Montagabend in der französischen Hauptstadt beschreiben könnten. Tatsächlich stammen sie aus dem Roman "Notre-Dame de Paris" von Victor Hugo (1831). Heute liest sich die Passage wie eine düstere Prophezeiung.

Bewegt wie kaum ein anderes Ereignis zuletzt

Weltweit herrscht Betroffenheit nach dem Brand in Notre-Dame. Laut Branchendienst meedia zeigen die Google-Suchanfragen - allein über fünf Millionen aus Deutschland -, dass das Feuer die Menschen weltweit bewegt habe "wie kaum ein anderes Ereignis in der jüngeren Vergangenheit". Der Moment, in dem der Spitzturm umknickte, die rot glühenden Gerüste, die Rauchwolken: Diese Bilder werden im kollektiven Gedächtnis verhaftet bleiben.

Notre-Dame sei nicht nur eines der größten Symbole des Christentums, sagte der französische Politikwissenschaftler Henri Menudier am Dienstag im Deutschlandfunk: "Es hat eine allgemeine geschichtliche und politische Bedeutung." Menudier erinnerte an historische Ereignisse, die in der Kirche stattgefunden haben, etwa die Kaiserkrönung Napoleons I. oder den Gottesdienst zum Ende der deutschen Besatzung im August 1944.

Die Kathedrale auf der Ile de la Cite sei "mehr als eine Kirche", heißt es allenthalben. Viele Pariser betrachten das Bauwerk als Herz ihrer Stadt; es ist Unesco-Weltkulturerbe und Wahrzeichen mit jährlich bis zu 14 Millionen Besuchern. Indes, Notre-Dame ist eine Kirche. "Die Umgebung dieser Gotteshäuser war immer Handel, Klugheit, Innovation, gemeinsame Vielfalt", schreibt die Initiative Pulse of Europe auf Twitter.

Die Idee einer Kathedrale, erklärt der Philosoph Ludger Schwarte, ist die einer "allegorischen Leiter in die Himmlische Stadt". Lange war die zentrale Kirche das höchste Gebäude in europäischen Städten: "Sie überragt alle vertikalen Artikulationen und sammelt alle horizontale Unruhe in ihrem Inneren."

Eine besondere Stimmung in Kirchen spüren auch viele nichtreligiöse Menschen, die etwa im Urlaub ein Gotteshaus besuchen. Schwarte beschreibt sie als "Innerlichkeit", das Geheimnis des Glaubens als "Licht hinter den vielen Glanzpunkten", die durch das Zusammenspiel von bunten Fenstern, Kerzen und Sonneneinstrahlung entstehen. Indem die Kathedrale ihren Glanz nach außen richte, spreche sie alle Vorbeigehenden an, ob gläubig oder nicht: die Kathedrale als Bühnenbild, als "Tor, das die Welt initiiert".

Erinnerungen an eigenen Besuch

Prominente und Privatleute erinnern sich derzeit in den Sozialen Medien daran, wie sie Notre-Dame besucht haben - zum ersten oder zum letzten Mal, zum Gebet, für ein Konzert oder als Tourist. An diesen Reaktionen zeige sich, wie die Bedeutung der Kathedrale über den rein religiösen Bezug hinausgehe, sagt der Leipziger Religionssoziologe Gert Pickel. Immer wieder würden Kirchen umgedeutet zu Kulturdenkmälern, zu Symbolen für eine Stadt, einen Staat und dessen Geschichte. Um sich mit ihnen zu identifizieren, müsse man heutzutage nicht unbedingt religiös sein.

Pickel verweist auf Kirchbauvereine in ostdeutschen Städten, die bisweilen mehr Mitglieder haben, als je Leute am selben Ort einen Gottesdienst besuchen. "Ihnen geht es darum, dass ein Merkmal ihrer Stadt erhalten bleiben soll. Oder um persönliche Erinnerungen, etwa die Oma, die in dieser Kirche geheiratet hat." Kirchen hätten in den meisten Städten eine zentrale Stellung - wörtlich und im übertragenen Sinne. Wenn solch eine scheinbar unvergängliche Institution zu verschwinden drohe, erschrecke das viele Menschen.

Für die Kirchen sieht Pickel darin auch eine Chance: "Es braucht Möglichkeiten, um in Berührung zu kommen." Nicht jeder, der etwa den Klang eines Bach-Chores in einer Kirche genieße, befasse sich auch mit dem Glauben, sagt er. "Insofern darf man sich von solchen Gelegenheiten nicht zu viel versprechen. Man darf sie aber auch nicht unterschätzen."


Quelle:
KNA
Mehr zum Thema