Eine theologische Betrachtung zum heiligen Martin

Mitgefühl auf den ersten Blick

Wie oft laufen wir - in Gedanken versunken oder ganz bewusst - an leidenden Menschen vorbei. Im vierten Jahrhundert achtete dagegen einer auf einen Bedürftigen. Sein selbstloses Verhalten inspiriert bis heute.

Autor/in:
Fabian Brand
Sankt Martin / © jorisvo (shutterstock)

Ob es denn Liebe auf den ersten Blick war, werden Paare manchmal gefragt. Angeblich ist ja der erste Eindruck von einem Menschen auch der Entscheidende. Dann zeigt sich bereits, ob man mit jemandem "kann" oder nicht, ob man sich sympathisch findet und dieselbe Wellenlänge teilt. Und mitunter folgt auf den ersten Blick ein zweiter, der so manches offenbart, das man vorher nicht wahrgenommen hat. Weil man mit einem einzigen Blick doch nicht alles erfassen kann, was einen Menschen ausmacht oder auszeichnet. Da braucht es viel mehr Zeit, um sich miteinander auseinanderzusetzen und einander kennenzulernen.

Sankt Martinszug / © Harald Oppitz (KNA)
Sankt Martinszug / © Harald Oppitz ( KNA )

Anscheinend war es sprichwörtlich Liebe auf den ersten Blick: Zumindest erzählt es die Legende so, dass der heilige Martin sofort sein Pferd anhielt, nachdem er den Bettler wahrgenommen hatte. Am Stadttor der französischen Stadt Amiens saß er und fror. Doch alle gingen vorbei, niemand würdigte den Armen nur eines Blickes. Bis auf den römischen Offizier, der sogar auf dem hohen Ross einen Blick hatte für die Not und die bittere Armut dieses Menschen.

Hinabgestiegen in das Elend

In vielen Gemeinden und Pfarreien wird diese Legende rund um den Martinstag nachgespielt: Es ist etwas Außergewöhnliches, dass ein Soldat seinen Mantel mit einem Armen teilt, dass er vom starken Pferd hinabsteigt in das Elend dieses armen Mannes. So wird es uns seit Jahrhunderten erzählt, und wir erinnern uns Jahr für Jahr wieder gerne an den heiligen Bischof von Tours.

Stichwort Martinstag

Am 11. November feiern Christen das Fest des heiligen Martin, eines der populärsten Heiligen überhaupt. Die nach ihm benannten Umzüge erinnern an die Legende, nach der er als römischer Soldat seinen Mantel mit einem Bettler teilte, um diesen vor dem Erfrieren zu retten.

Der heilige Martin sitzt auf einem Pferd und teilt seinen Mantel mit einem Bettler. / © Harald Oppitz (KNA)
Der heilige Martin sitzt auf einem Pferd und teilt seinen Mantel mit einem Bettler. / © Harald Oppitz ( KNA )

Gleich auf den ersten Blick hat Martin den Bettler wahrgenommen. Er hat die Augen vor der Not des Mannes nicht verschlossen; er ist nicht an ihm vorübergeritten. Er hat Halt gemacht, ist abgestiegen, hat seinen Mantel geteilt. Deswegen denken wir so gerne an Martin: weil er etwas getan hat, das uns manchmal fremd erscheint. Weil er das gesehen hat, das wir gerne übersehen, weil wir so häufig die Augen verschließen: die Not, die Angst, die Sorge der Menschen, die mitten in unserem Alltag leben.

Martin hat sie gesehen - und er hat gehandelt. Er hat die Armut des Bettlers zu seiner eigenen Armut gemacht. Er hat das Schicksal des Armen geteilt. Er hat so gehandelt, wie auch Christus gehandelt hat, und deshalb konnte er im Nächsten Christus selbst begegnen.

Wissen auf den ersten Blick

Wir können vom heiligen Martin lernen, die Augen offenzuhalten. Die Menschen zu sehen, die in unserem Umfeld leben und mit uns zusammen ihr Leben gestalten. Auf den ersten Blick sollen wir sehen, was ihnen gerade fehlt und was sie brauchen. Genau das hat der heilige Martin uns vorgemacht: Es hat nicht den zweiten oder dritten Blick gebraucht; er hat sofort gewusst, was er dem armen Menschen in dieser Situation Gutes tun kann.

Und das dürfen auch wir lernen: sensibel zu werden für das, was die Menschen um uns herum gerade brauchen. Das ist eine große Kunst, weil wir uns oft schwertun, von oben herab überhaupt zu sehen, was um uns herum geschieht. Weil wir manchmal nur das Oberflächliche sehen und nicht den Mut haben, den Menschen ins Herz zu schauen und zu erkennen, was sie wirklich bewegt. Der 11. November, der Tag des heiligen Martin, ist Jahr für Jahr eine Einladung, dass wir neu sehen lernen.

Auf das Sehen kommt es an

Reformator Martin Luther hat einmal gesagt: "Gott liebt die Sünder nicht, weil sie schön sind. Sondern sie sind schön, weil sie geliebt werden." Wenn Menschen gesehen werden mit dem, was sie bewegt, dann werden sie schön. Dann werden sie wahrgenommen, dann wird ihnen gezeigt, dass sie wertvoll sind, dass sie Menschen mit Würde sind. Denn auf das Sehen kommt es an, wie uns der heilige Martin zeigt.

Und so heißt es im Matthäus-Evangelium: "Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen (...) und wann haben wir dich fremd und obdachlos gesehen (...) und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen?" (Mt 25,37-39) Man kann nicht jede Not des anderen auf einfache Weise lindern. Entscheidend ist: Zuerst muss man sie wahrnehmen, den Nächsten sehen, sein Elend erkennen. Erst dann kann man versuchen zu helfen. Der heilige Martin lehrt uns, diese Liebe auf den ersten Blick immer und immer wieder neu einzuüben.

Quelle:
KNA