Eine generelle Anzeigepflicht bei Missbrauch ist umstritten

"Nicht im Interesse des Opferschutzes"

In der Debatte über den Umgang mit sexuellem Missbrauch ist eine Anzeigepflicht ins Gespräch gebracht worden. Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger ist dafür, die bayerischen Bischöfe auch. Juristen und Kinderschutzexperten haben dagegen große Vorbehalte.

Autor/in:
Christoph Renzikowski
 (DR)

Auch der Würzburger Rechtsprofessor Klaus Laubenthal lehnt eine solche Änderung kategorisch ab. Laubenthal ist auf Sexualstrafrecht spezialisiert und seit 13. März Ansprechpartner des Bistums Würzburg für Missbrauchsopfer. Nach seiner Auffassung wäre eine Anzeigepflicht nicht im Interesse der Opfer.

Seit knapp zwei Wochen hat Laubenthal nicht mehr nur theoretisch mit der Fragestellung zu tun. Per E-Mail und Telefon melden sich bei ihm "massiv traumatisierte Personen". Oft ist er der erste Mensch, dem sie ihr schreckliches Geheimnis anvertrauen, manchmal nach über 50 Jahren. Bei Fällen jüngeren Datums, die an ihn herangetragen werden, hat er nach eigenem Bekunden auch schon die Staatsanwaltschaft eingeschaltet, "aber nur dann, wenn die Opfer das wollen".

Eine Anzeigepflicht gibt es in Deutschland bisher nur für ganz wenige, schwerste Verbrechen, etwa Landesverrat, Mord, Entführung oder Brandstiftung. Sie gilt zudem nicht für bereits begangene, sondern nur geplante Taten. Wer von ihnen Kenntnis erlangt und keine Anzeige erstattet, muss mit bis zu fünf Jahren Haft rechnen.

2003 erster Gesetzentwurf
Schon früher wurde vorgeschlagen, diese Strafdrohung auf Mitwisser von sexuellem Missbrauch auszudehnen. Die rot-grüne Koalition legte dazu 2003 einen Gesetzentwurf auf den Tisch. Die damalige Bundesjustizministerin Brigitte Zypries (SPD) hoffte so, den Schutz von Kindern zu verbessern. Deren Umfeld, also Angehörige und Nachbarn, sollte auf diese Weise zum Hinschauen sensibilisiert und somit die gewaltige Dunkelziffer gesenkt werden. Kriminologen vermuten, dass auf einen angezeigten Missbrauch zwischen 20 und 100 nicht geahndete Übergriffe kommen.

Doch das Vorhaben von Zypries wurde in einer Expertenanhörung im Bundestag fast einhellig abgelehnt. Auch der abgeschwächte Vorschlag einer Meldepflicht fiel bei den Justizministern der Länder durch. Kinderschützer und Hilfseinrichtungen warnten damals, eine Anzeigepflicht würde das Gegenteil des Angestrebten bewirken. Die Täter würden den Geheimhaltungsdruck auf die Kinder nur verstärken. Diese bräuchten ohnehin sehr viel Mut, sich Erwachsenen anzuvertrauen, heißt es etwa beim Kölner Verein Zartbitter.

"Das würde die Denunziation fördern"
Bei sexuellem Missbrauch geht es um Erlebnisse "in einem Bereich der Persönlichkeit, über die man mit einem Fremden generell nicht gern spricht", wendet auch Laubenthal ein. Die Opfer kraft Gesetz in die Öffentlichkeit zu zerren, hält der Jurist, der auch Psychologe ist, für absolut unangemessen.

Auch einer institutionell verankerten Meldepflicht, etwa in Schulen, steht Laubenthal skeptisch gegenüber. "Das würde die Denunziation fördern", sagt er und gibt zu bedenken, dass eine solche Verdachtsmitteilung auch soziale Existenzen zerstören kann. Es bestünde etwa die Gefahr, sich auf diese Weise eines missliebigen Kollegen zu entledigen.

Für den Missbrauchsbeauftragten hat das Opferinteresse unbedingten Vorrang - mit einer Ausnahme: Werden ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit Straftaten geschildert in dem Wissen, dass der Täter heute noch Umgang mit weiteren potenziellen Opfern hat, steht er vor einer schwierigen Abwägung. Was gilt mehr, die Bitte um vertrauliche Behandlung oder die Abwehr einer konkreten Gefahr weiterer Taten? Laubenthal hat ein solches Dilemma noch nicht erlebt. Je nach Lage des Falls könnte es dann aber geboten sein, doch Anzeige zu erstatten, sagt er.