Ein Workshop zeigt, Präventivarbeit gegen Rechts ist wichtig

Längst nicht nur Stiernacken und Tattoo

 (DR)

Nachdenklich schaut Mario auf das Foto. Zwei Mädchen schauen ihn an, lächeln freundlich, haben lange blonde Haare, tragen bunte T-Shirts - es ist Sommer. «Schwer zu sagen», murmelt der 12-Jährige. «Vielleicht Mitte?»

«Völlig falsch», antwortet Micha. «Bei den beiden Mädchen handelt es sich um das US-Gesangsduo Prussian Blue, die mittlerweile Ikonen in der amerikanischen Nazi-Rock-Szene sind», erläutert der 29-Jährige, der an diesem Samstag zu einem Workshop über Rechtsextremismus nach Bocholt eingeladen hat. Und weist damit nach, dass man die politische Einstellung anderer Menschen nicht allein nach Äußerlichkeiten einschätzen kann. Mario staunt: «Das hätte ich nicht gedacht.» Micha hält das nächste Bild hoch: «Was meint Ihr, Rechts, Links, Mitte?»

Dreizehn Jugendliche im Alter zwischen 12 und 20 Jahren sind ins «Café Karton» der Katholischen Studierenden Jugend (KSJ) in der Stadt an der niederländischen Grenze gekommen. Sie wollen «mehr über die rechte Szene in Deutschland erfahren» und auch «die eigenen Vorurteile besser kennen lernen». Ein Workshop, der im kommenden Jahr in dieser Form vielleicht nicht mehr möglich ist: Die Finanzierung der Kölner «Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt» (ARUG), für die Micha arbeitet, ist nur noch bis Ende des Jahres sicher. Das Bundesförderprogramm XENOS will in Zukunft lieber in «mobile Einsatzteams» investieren.

Micha zeigt jetzt ein Foto von einem kräftigen Mann mit Glatze, der ein Mikrofon in der Hand hält. «Der ist rechts», da sind sich alle einig. «Stiernacken und Tattoos sind heute leider aber keine Garantie mehr», so der Workshop-Leiter.

Micha weiß, wovon er spricht. Der 29-Jährige, der für die ARUG arbeitet, war selbst über 15 Jahre lang Teil der «Szene», mit europaweiten Kontakten, wie er berichtet. Dann, nach der Geburt seines Kindes, kam der abrupte Ausstieg. Über die genauen Gründe will er nicht reden, nur soviel: «Ich wollte das Kapitel damals komplett abhaken.» Inzwischen aber versucht Micha alles, damit andere Jugendliche nicht das gleiche erleben müssen wie er.

«Das rechtspopulistische Potenzial in der Bevölkerung ist groß, wir sind nur zu wenig sensibel, das zu erkennen», warnt der 29-Jährige seine Zuhörer. «Was macht Rechtsextremismus aus?» fragt Micha in die Runde. «Gegen Ausländer zu sein», meint Sarah. Die Antwort reicht Derya nicht aus: «Rechts zu sein heißt doch auch gegen Homosexuelle, Behinderte und andere Religionen zu sein. Eigentlich gegen alles, was irgendwie anders ist.» Die 20-jährige Türkin richtet sich auf dem zerknautschten Sofa auf: «Man kriegt doch leider viel zu wenig mit, weil viel zu wenig drüber geredet wird.»

Micha teilt die Gruppe jetzt in Paare ein, die sich möglichst wenig kennen sollen. Beim «stillen Interview» wird jeder seinen Gegenpart einschätzen - ohne Worte. Steffi kaut nachdenklich an ihrem
Kugelschreiber: Welche Musik wohl ihr Interview-Partner Alexander hört? Wovor hat er Angst? Hat er etwa schon Erfahrungen mit Gewalt und Ausgrenzung gemacht? Die Ergebnisse sind verblüffend: Meist steckt hinter der Fassade nicht das, was man vermutet hätte. «Es geht darum, dass ihr Vorurteile hinterfragt», wünscht sich Micha.

Dabei soll es allerdings nicht bleiben: An diesem Samstag geht es auch um ganz handfeste politische Fragen. «Wäre es denn nicht am einfachsten, die NPD zu verbieten?» wirft Derya in die Runde. Ein Verbot der NPD in Deutschland, um den Rechtsextremismus zu bekämpfen, hält Micha für den falschen Weg. Die Leute würden in den gleichen Strukturen weiterarbeiten. Er setzt auf die Vorstufe: «Wir müssen viel früher ansetzen und noch viel mehr in Präventionsarbeit investieren, die langfristig ist. Der Bedarf in der Gewaltprävention ist riesig.»

Micha freut sich, dass alle so angeregt diskutieren. Umso mehr bedauert er, dass eine dauerhafte Finanzierung der ARUG bislang noch in den Sternen steht. Die vom Bund geplanten «mobilen Einsatzteams» anstelle der festen Institution einer Arbeitsstelle überzeugen ihn
nicht: «Für Leute, die in Schwierigkeiten sind, kann ein mobiles Team feste Ansprechpartner nicht ersetzen.»