Ein NS-Gesetz bahnte vor 75 Jahren den Weg zur Euthanasie

Als der Rassenwahn begann

Mehr als 200.000 Menschen fielen der "Aktion T4" zum Opfer: dem nationalsozialistischen Mordprogramm, das den Weg zur Euthanasie bahnte. Vor 75 Jahren wurde das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" verkündet. Seit Freitag soll in Berlin eine Gedenktafel vor der Philharmonie an das grausame Kapitel deutscher Geschichte erinnern.

Autor/in:
Christoph Arens
 (DR)

Erbgesundheit lag im Trend. In vielen Ländern wurde die Frage, ob ein Volk durch die Erfolge der Medizin und die besseren Lebenschancen kranker Menschen in seiner Erbausstattung geschwächt werde, zu Beginn des 20. Jahrhunderts heiß diskutiert. Die USA, die Schweiz, Dänemark, Schweden, Norwegen - sie alle erließen gesetzliche Regelungen zur Erbgesundheit.

Doch kein Land reagierte auf die vom Naturforscher Charles Darwin aufgeworfene Theorie der natürlichen Auslese so radikal und brutal wie das nationalsozialistische Deutschland. Das vor 75 Jahren, am 14. Juli 1933 verkündete "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" sollte die "rassisch minderwertigen" Kranken und Schwachen eliminieren und der "Höherzüchtung" des Volkes dienen.

Danach konnte ein Erbkranker unfruchtbar gemacht werden, wenn "mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass seine Nachkommen an schweren körperlichen oder geistigen Erbschäden leiden werden". Das Gesetz, das 1934 in Kraft trat, bedeutete für Zehntausende Geisteskranke, Epileptiker, Blinde, Taube, Körperbehinderte und Suchtkranke die zwangsweise Sterilisierung oder den Tod.

400.000 Menschen zwangssterilisiert
Hitler selber hatte sich für das Thema interessiert: Während seiner Haft in Landsberg 1924 las er den "Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene", publiziert von den Professoren Erwin Bauer, Eugen Fischer und Fritz Lenz. Der Eugeniker Lenz sah die größte Bedrohung der Rasse in der "Zunahme der Kurzsichtigkeit, der Zahnkaries und der Stillschwäche". Die Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre verschaffte dem Gedankengut der Eugeniker weiteren Einfluss: Sie schlugen vor, Armut medizinisch zu beseitigen und durch Sterilisierung zumindest weitere "Minderwertige" zu verhindern.

In Deutschland wurden zwischen 1933 und 1945 rund 400.000 Menschen zwangssterilisiert. Mehr als 5.000 Frauen und 600 Männer überlebten diesen Eingriff nicht. Systematisch wurden Polizei-, Fürsorge- und Krankenakten durchforstet, um möglichst jeden "Erbkranken" notfalls mit Polizeigewalt auf den OP-Tisch zu verfrachten.

Psychiatrieprofessoren und Anstaltsdirektoren betätigten sich als Richter an den 220 Erbgesundheitsgerichten, Gynäkologen sterilisierten selbst zweifelhafte "Fälle", bei denen es eher um die Demütigung politisch Missliebiger ging.

Die Forderungen nach einer "Vernichtung lebensunwerten Lebens" radikalisierten sich zusehends. 1935 trat ein Änderungsgesetz in Kraft, das die Abtreibung aus eugenischer Indikation frei gab und die Grundlage für rund 30.000 Schwangerschaftsabbrüche bildete.

1939 brachen alle Dämme
Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schienen alle Dämme zu
brechen: Ohne gesetzliche Grundlage ordnete Hitler im Oktober 1939 - sein Erlass wurde bezeichnenderweise auf den Tag des Kriegsbeginns am 1. September 1939 rückdatiert - an, "die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken... der Gnadentod gewährt werden kann".

Schon bald begannen die Nationalsozialisten in "geheimer Reichssache" mit der so genannten "Kindereuthanasie". Von 1939 bis 1945 wurden mindestens 5.000 Jungen und Mädchen ermordet. Zwischen Januar 1940 und August 1941 fielen der "Erwachseneneuthanasie" mindestens 70.000 Insassen von Heil- und Pflegeanstalten zum Opfer.

Die Aktion wurde nach dem Sitz der verantwortlichen Dienststelle in der Tiergartenstraße 4 in Berlin "T4" genannt. Gemordet wurde insbesondere in sechs Tötungsanstalten: in Grafeneck, Brandenburg, Hartheim, Sonnenstein, Bernburg und Hadamar.

Als der "Löwe von Münster" zu predigen begann
Erst die berühmten Predigten des Bischofs von Münster, Clemens August von Galen, ließen die Mordaktion zumindest zeitweise zum Erliegen kommen. Am 3. August 1941 prangerte der "Löwe von Münster" den organisierten Mord an Altersschwachen und Geisteskranken an.  "Wenn man den Grundsatz aufstellt und anwendet, dass man den 'unproduktiven' Menschen töten darf, dann wehe uns allen, wenn wir alt und altersschwach werden", warnte er.

Die "Aktion T4" wurde abgebrochen. Dennoch wurden bis 1945 mindestens 20.000 als "gemeinschaftsfremd" und "arbeitsunfähig" ausgesonderte KZ-Häftlinge ermordet. Der massive Luftkrieg ab 1943 und der dadurch wachsende Bedarf an Krankenhäusern lieferte dann erneut den Vorwand, um die Ermordung von Insassen von Heil- und Pflegeanstalten wieder aufzunehmen. Nach vorsichtigen Schätzungen wurden nach August 1941 nochmals mindestens 30.000 Insassen ermordet. Das so genannte Euthanasieprogramm der Nationalsozialisten hatte damit zwar bei weitem nicht die Ausmaße des Holocaust. Es war jedoch ein Vorläufer - und ein Testfeld für die quasi industrialisierte Tötung von unliebsamen Menschen.

Berliner Gedenken
Auf dem Vorplatz der Berliner Philharmonie erinnert ab heute eine doppelseitige Informationstafel an die Opfer der sogenannten «Aktion T4» während des Nationalsozialismus. Zur Übergabe der Tafel am Vormittag sollen unter anderen der Berliner Kulturstaatssekretär André Schmitz und der Vorsitzende des Internationalen Beirats der Stiftung Topografie des Terrors, Peter Steinbach, sprechen, wie die Senatskulturverwaltung ankündigte. Mitwirkende des Theaterstücks «Tiergartenstraße 4» werden Biografien von Opfern der nationalsozialistischen «Euthanasie»-Programme vortragen.

Jüngst hatte für mehrere Monate das temporäre «Denkmal der grauen Busse» an das in der Tiergartenstraße 4 von den Nationalsozialisten geplante Mordprogramm an Kranken und Behinderten erinnert.