"Der Priester muss körperliche Nähe in Einklang mit dem Zölibat bringen." Ein Satz mit Sprengkraft - gerade in diesen Zeiten. Wunibald Müller weiß das. Allzu oft schon hatte der Psychotherapeut und Theologe Ärger, weil er aus Sicht mancher Kirchenmänner das Falsche zum Thema Missbrauch sagte. Das war vor Jahren.
In der aktuellen Krise verordnete er sich zunächst einmal Schweigen und konzentrierte sich auf seine Arbeit im Münsterschwarzacher Recollectio-Haus. Dort betreut er Priester und Ordensleute, die sich ausgebrannt fühlen oder genau dies verhindern wollen.
Über Gefühle reden, körperliche Nähe erleben
Müller sitzt in einem bequemen Sessel in seinem Büro und erklärt: Priester und Ordensleute müssen Intimität lernen, so wie jeder andere Mensch auch. "Ich muss die Erfahrung machen können, in einer tiefen, bedeutungsvollen und verbindlichen Beziehung zu anderen Menschen der sein zu dürfen, der ich bin." Das heißt: über Gefühle reden, körperliche Nähe erleben - wenn auch ohne genitale Sexualität.
Intimitätsbefähigung nennt der Psychotherapeut das. Sie sollte schon zur Ausbildung angehender Priester und Ordensleute gehören. Sie müssten lernen, die eigene Intimsphäre zu schützen und selbst zu bestimmen, wie nahe ihnen ein anderer Mensch kommen dürfe. "Ich muss den Reißverschluss immer innen haben." Das sei auch notwendig, um Rücksicht auf die Gefühle anderer nehmen zu können.
Über seine sexuelle Identität klarwerden
So wie jeder Mensch müsse sich auch ein Seminarist über seine sexuelle Identität klarwerden und diese annehmen, auch eine mögliche homosexuelle. Doch wie geht das im Einklang mit dem Zölibat? "Ich muss mir eingestehen: Wen finde ich anziehend, wer erregt mich, in wen verliebe ich mich?" Jeder angehende Geistliche müsse spüren, was für eine Macht Sexualität haben könne. Nur so sei eine Entscheidung für ein zölibatäres Leben frei. "Sonst sitzt die Sexualität auf dem Fahrersitz."
Der Versuch, diesen emotionalen Reifungsprozess zu unterdrücken oder durch Ausweichmanöver zu umgehen, sei falsch, sagt der Therapeut. Dieser Weg könne natürlich auch in die Erkenntnis münden, dass ein Kandidat nicht mehr bereit sei, zölibatär zu leben. Viele Menschen, die Minderjährige sexuell missbrauchen, seien letztlich psychosexuell unreif, sagt Müller. Sie hätten Schwierigkeiten, sich mit Gleichaltrigen auf eine gleichberechtigte Beziehung einzulassen. Deshalb suchten sie die Nähe zu Kindern. Sich in ihre Opfer einfühlen könnten sie nicht.
Sexualität spielt eine wichtige Rolle
Daneben betont Müller auch die Fähigkeit zur Hingabe: über sich selbst hinausgehen zu können bedeute mehr als nur für sich selbst zu sorgen. Dabei spiele Sexualität eine wichtige Rolle. Sie habe dieses Transzendenzpotenzial, so der Theologe. Es ermögliche die Verschmelzung mit jemandem oder etwas anderem. Deshalb sei es auch für Priester wichtig, diese Hingabefähigkeit zu nutzen.
Denn genau das mache ja die zölibatäre Lebensform aus: Ein Geistlicher verzichte schließlich auf Ehe und Familie, damit er sich in einer besonderen Weise den Menschen und der Sache Gottes hingeben könne. Dafür müsse er auch seine Sexualität kennen - ein heikles Thema in der katholischen Kirche. "Schade, dass das Transzendenzpotential verunmöglicht wird, wenn man der Sexualität Gift gibt." Noch so ein Satz des Theologen mit Sprengkraft.
Ein Besuch beim Therapeuten und Theologen Wunibald Müller
Intimität als Lernaufgabe
Seit vielen Jahren forscht Wunibald Müller zum Thema "sexueller Missbrauch und Kirche". In seinem neuen Buch "Verschwiegene Wunden" beschreibt er, wie sexueller Missbrauch in der Kirche erkannt - und verhindert werden kann.
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