Ein bayerischer Unternehmensberater analysiert die Kirchenkrise

"Wir haben ein Handlungsproblem"

"Schafft sich die katholische Kirche ab?", lautet der provokative Titel eines neuen Buches. Autor ist der einstige McKinsey-Unternehmensberater Thomas von Mitschke-Collande, der schon die Deutsche Bischofskonferenz und mehrere Diözesen beraten hat. Im Interview spricht der 62-Jährige über seine Diagnose und Therapievorschläge zur Kirchenkrise.

 (DR)

KNA: Herr von Mitschke-Collande, sind Sie - wie der Titel Ihrer Neuveröffentlichung nahelegt - der katholische Sarrazin?

Mitschke: Wenn das Buch eine ähnlich intensive Diskussion in- und außerhalb der Kirche auslöst, und sei sie auch noch so kontrovers, hätte ich mit dem Vergleich kein Problem. Ansonsten möchte ich nicht in dieselbe Schublade gesteckt werden.



KNA: Worum geht es Ihnen?

Mitschke: Die Amtskirche soll den Ernst der Lage erkennen und die Chancen nutzen, die Zukunft nicht in einem rückwärts gerichteten Verhalten, sondern in einer Vorwärtsstrategie zu ergreifen. Die Kirche hat kein Nachfrageproblem, sondern vor allem ein Angebotsproblem. Sie erreicht immer weniger den Menschen von heute, so wie er ist, mit all seinen Nöten und Hoffnungen. Eigentlich müsste die Kirche boomen. Mehr denn je suchen Menschen nach Spiritualität, Gemeinschaft und Orientierung. Mein Anliegen ist schon mit dem ersten Satz des Buches voll umschrieben: "Lieber breche ich ein Gesetz der Kirche als das Herz eines Menschen." Das war die seelsorgliche Handlungsmaxime meines verstorbenen Gemeindepfarrers.



KNA: Wer Ihr Buch liest, gewinnt den Eindruck, Ihnen sei irgendwann der Geduldsfaden mit Ihrer Kirche gerissen. Gab es ein Schlüsselerlebnis?

Mitschke: Eigentlich nein. Das Buch hat sich aus Vorträgen und Publikationen, Beobachtungen und Gesprächen der letzten Jahre entwickelt. An manchen Stellen scheinen die Erfahrungen mit dem Inhalt, vor allem aber mit dem Vorgehen im Rahmen der Raumplanung meines Diözesanbischofs Konrad Zdarsa in Augsburg durch. Ich habe die Ohnmacht der Gläubigen gegenüber den Anweisungen der bischöflichen Obrigkeit erlebt, die Hilflosigkeit vieler engagierter Katholiken, die bald in Wut und Enttäuschung umschlug.



KNA: Was hätte man denn anders machen sollen?

Mitschke: Man hat das Pferd verkehrt herum aufgezäumt. Anstatt die Leute von Anfang an einzubinden, wurde ihnen diktiert, wie es weitergeht. Dass jetzt manches nicht so kommt wie zunächst geplant, liegt auch daran, dass sich das viele Augsburger Katholiken nicht haben gefallen lassen und aufbegehrt haben. Obwohl das keine Revoluzzer sind. Natürlich muss es größere pastorale Räume geben.

Die Grundsatzfrage aber ist: Wie erhalte und fördere ich kirchliches Leben an der Basis? Von dort her ergeben sich dann weitere übergeordnete Strukturen.



KNA: Sie diagnostizieren bei kirchlichen Entscheidern mächtige Verdrängungsmechanismen. Wie wollen Sie die durchstoßen?

Mitschke: Die von mir zusammengetragenen Daten sind im Wesentlichen nicht neu. Aber ich hoffe, dass die kompakte Zusammenschau ihre Wirkung nicht verfehlt. Wir haben eine Glaubenskrise und eine Kirchenkrise. Beides bedingt sich gegenseitig und muss zugleich angegangen werden. Ein Ressourcenproblem haben wir dagegen nicht.



Die katholische Kirche in Deutschland verfügt heute inflationsbereinigt über viermal so viel Geld wie 1960. Im selben Zeitraum ist die Beteiligung der Gläubigen am kirchlichen Leben von knapp 50 Prozent auf jetzt unter 13 Prozent zusammengebrochen. Das heißt, wir haben ein Bindungs- und ein Vermittlungsproblem. Hier müssen die Überlegungen ansetzen. Mir geht es nicht um Anpassung an den Zeitgeist. Die Kirche muss sich auf der Grundlage des Evangeliums mit der Zeit auseinandersetzen und auf die Fragen antworten, die der heutige Mensch stellt und versteht.



KNA: Ihre Vorschläge zielen auf eine andere kirchliche Betriebskultur. Solche Prozesse brauchen erfahrungsgemäß Zeit. Was müsste als erstes passieren?

Mitschke: Die Verantwortlichen sollten zunächst den Mut haben, sich der Diagnose zu stellen. Das Gesamtbild mag nicht vollständig sein, aber es ist stimmig. Erster Ansatzpunkt ist ein verändertes Selbstverständnis. Die Kirche ist für die Menschen da, sie muss wieder evangeliumsgemäßer, einfacher werden. Wir brauchen eine Theologie des Scheiterns und der Barmherzigkeit, um wieder glaubwürdiger zu werden. Dass das nicht gleichbedeutend ist mit der Aufweichung dogmatischer Grundsätze, kann man von der orthodoxen Kirche lernen. Dann muss die Kirche katholischer werden - nicht römischer.



KNA: Wie meinen Sie das?

Mitschke: Kein Weltkonzern käme auf die Idee, ein nationales Gesangbuch von der Zentrale absegnen zu lassen. Die Spitze muss nicht alles regeln, sondern sich auf die Bewahrung der Grundwahrheiten konzentrieren. Die Kirche hat sich im ersten Jahrtausend auch ohne Zentralismus hervorragend entwickelt. Katholisch bedeutet aber auch allumfassend, das Ganze ansprechend, nicht nur den Kopf. Es geht auch um Emotionen.



KNA: Sie plädieren für "loyalen Ungehorsam". Ein Unternehmensberater würde sofort seinen Auftrag verlieren, wenn er der Belegschaft seines Kunden riete, stärker gegen die Chefs aufzumucken.

Mitschke: Sie werden sich vielleicht wundern, aber ein Unternehmensgrundsatz von McKinsey lautet: Ein Mitarbeiter ist zum Widerspruch verpflichtet, wenn er anderer Meinung ist als sein Boss. Und dieser ist verpflichtet, sich mit der Kritik auseinanderzusetzen.



KNA: Was heißt das auf die Kirche übertragen?

Mitschke: Wir reden seit Jahren über Reformen, und nichts passiert. Irgendwann muss man zur Tat schreiten. Wir haben heute durchaus so etwas wie eine vorreformatorische Stimmung. Steine des Anstoßes gibt es genug. Und es gibt machtvolle Kommunikationsmöglichkeiten. Aus Wut-Katholiken werden Mut-Katholiken. Damit etwas ins Rollen kommt, fehlt vielleicht nur noch eine charismatische Persönlichkeit wie Franziskus oder Martin Luther. Vergessen wir nicht: Viele Heilige waren anfangs ungehorsame Außenseiter. Aber man sollte auch nicht ausschließen, dass uns der Heilige Geist wieder einen liebenswürdigen Revolutionär wie Johannes XXIII. auf dem Stuhl Petri beschert. Wir haben kein Erkenntnisproblem, sondern ein Handlungsproblem.



Das Interview führte Christoph Renzikowski.



Buchhinweis

Thomas von Mitschke-Collande

Schafft sich die katholische Kirche ab?

Analysen und Lösungen eines Unternehmensberaters. Mit einem Vorwort von Kardinal Karl Lehmann.

256 Seiten

ISBN: 978-3-466-37054-2

€ 19,99