Seit vielen Jahren begeistert Dorothee Oberlinger ihr Publikum, längst nicht mehr ausschließlich als virtuose Blockflötistin, sondern seit geraumer Zeit als Ensembleleiterin und Dirigentin. Als Expertin für historische Aufführungspraxis scheut sie auch mühsame Archiv-Arbeit nicht, die sich aber ihrer Meinung nach auf jeden Fall lohnt, wie sie im Gespräch mit DOMRADIO.DE erzählt.
Denn jetzt wird sie mit ihrem Ensemble 1700 beim Festival Alte Musik Knechtsteden unweit von Köln die neuzeitliche Wiederaufführung des Oratoriums "La colpa originale" leiten – ein zweiteiliges, abendfüllendes Werk für Solisten, Chor und Orchester des Barockkomponisten Francesco Conti (1682-1732), das aber seit fast dreihundert Jahren nicht mehr musiziert wurde. Thema ist die besagte Erbsünde und die dahinterstehende biblische Erzählung von Adam und Eva. Unter Erbsünde wird – vereinfacht ausgedrückt – die Sündhaftigkeit aller Menschen gemeint, die seit dem Sündenfall der beiden ersten Menschen in jedem menschlichen Lebewesen fortbesteht.
Die Bibel schildert, wie Adam und Eva zunächst im Paradies leben, dann an der verbotenen Frucht naschen, von Gott vertrieben werden und auf der Erde schließlich ein irdisches Leben führen müssen.
Oratorium mit komischer Note
Die Sängerin Alice Lackner machte Oberlinger auf das fast vergessene Oratorium aufmerksam, das als Abschrift im historischen Archiv in Meiningen liegt. Aber wie erkennt man, dass in einem Haufen alter Blätter tolle Musik steckt? "Man schaut sich die Partitur an und versucht sie innerlich zu hören", erklärt Dorothee Oberlinger: "Und bei Conti merkt man schon, dass das eine hochstehende Komposition mit Qualität ist, sehr theatralisch, auch das Libretto, der Text, ist gut. Die Geschichte, die erzählt wird, hat sogar Witz – dafür war Conti auch bekannt, dass er gerne auch komische oder tragikomische Opern oder Oratorien schrieb."
Conti war seinerzeit als Theorbenspieler berühmt, aber auch für seine originellen Opern und Oratorien. Am Wiener Hof verlebte er sehr erfolgreiche Jahre, für Wien komponierte er das Oratorium "La colpa originale", das 1718 uraufgeführt wurde.
Auch wenn die Handlung aus der Bibel bekannt ist, entwickelt der italienische Hofkomponist eine fesselnde Geschichte rund um den Sündenfall, in der neben Adam und Eva Figuren wie Cherubino und Lucifer auftreten. Im zweiten Teil des Oratoriums müssen Adam und Eva als sterbliche Wesen auf der Erde erst einmal klarkommen. "Das Interessante ist, dass dieses Libretto auch im aufklärerischen Geiste geschrieben ist. Denn es heißt auch, wir sind jetzt selber verantwortlich, wir können unser Leben selbst in die Hand nehmen und wir können es gut gestalten. Die Geschichte wird also ein bisschen umgedreht und gesagt, dass es eigentlich doch etwas Gutes ist, dass es diese Erbsünde gab, denn jetzt nehmen wir unser Leben selbstbestimmt in die Hand und versuchen es gut zu leben", fasst Dorothee Oberlinger die Handlung zusammen.
Vertreibung aus dem Paradies als Chance
Die Darstellung der Eva ist dabei eine Herausforderung. Da zeigt sich das 18. Jahrhundert mit seinem Frauenbild deutlich, erzählt Oberlinger, die auch Professorin an der Universität Mozarteum Salzburg ist. Aber bei allen Klischees sieht sie auch spannende Details in der Rolle: "Eva sucht den Dialog, sie hinterfragt und probiert Dinge aus, sie ist neugierig."
Das Ende des Oratoriums ist dann optimistisch gehalten. Oberlinger sieht darin einen Appell, dass die Menschen aus dem Unglücklichen etwas Glückliches machen sollen: "Die Botschaft dahinter ist, dass jeder Mensch für die wahren Werte kämpfen soll. Und das ist ja etwas total Zeitgemäßes."
Keine Oper, aber mit szenischen Elementen
Der Aufführungsort ist auch etwas Besonderes, denn der wird die romanische Klosterbasilika des Klosters Knechtsteden sein. Das Kloster gehört dem Orden der Spiritaner, die dem renommierten Festival seit über 30 Jahren jedes Jahr das Gelände und die Basilika für eine Woche im Spätsommer überlassen. Als "Artist in Residence" freut sich Dorothee Oberlinger schon sehr auf die Aufführung.
Zumal das Konzert nicht ganz konzertant bleibt, sondern ein wenig den Charakter einer geistlichen Oper erhält: "Wir haben eine szenische Einrichtung von Nils Niemann, der das Ganze ein bisschen bühnenhaft gestaltet, damit man diese verschiedenen Ebenen des Irdischen und des Himmlischen auch visuell erleben kann."
Wer also bislang mit dem Thema "Erbsünde" nicht soviel anfangen konnte, dem bietet das Oratorium von Conti eine sehr sinnliche Möglichkeit, der biblischen Erzählung ganz neu zu begegnen.