Eigentlich hatte der frühere US-Präsident schon mit seinem Leben abgeschlossen. Doch der liebe Gott schenkte ihm eine Verlängerung. Im Februar 2023, nach mehreren kürzeren Krankenhausaufenthalten, entschied sich Jimmy Carter, zu Hause im Kreise der Familie auf den Tod zu warten. Er sei bereit und fürchte sich nicht, sagte er einem Reporter. Aber der Tod kam nicht.
Carters Zustand ist inzwischen einigermaßen stabil, wie die Ärzte sagen. Nun will er am 1. Oktober seinen 100. Geburtstag feiern. In dieser Woche fand in Atlanta bereits eine opulente Gala zu seinen Ehren statt. Der 39. US-Präsident (1977-1981) bleibt nicht wegen politischer Erfolge in Erinnerung, sondern für seine tiefe Menschlichkeit. Bis zuletzt unterrichtete der Baptist an der Sonntagsschule und wirkte an vorderster Front bei "Habitat for Humantiy" mit, das Häuser für Mittellose baut. Sein Glaube, sein Gottvertrauen und seine Moral ziehen sich wie ein roter Faden durch sein Leben.
Aufstieg aus der Provinz
Schon in jungen Jahren war er aktiv in der Baptisten-Gemeinde seines Heimatortes Plains im Georgia. Selbst als Präsident ließ er es sich nicht nehmen, in der Washingtoner "First Baptist Church" Bibelunterricht zu geben. Auch ein Gehirntumor im hohen Alter hinderte ihn nicht daran, in seiner Heimatgemeinde als Diakon zu arbeiten.
Carters politischer Aufstieg aus der Provinz Georgias, die ihn als politischen Nobody ins Weiße Haus führte, hat mehr mit seinem Glauben zu tun als allgemein bekannt. Sein Bekenntnis im Wahlkampf 1976, ein wiedergeborener Christ zu sein, stieß nicht nur in der heimischen Presse auf Skepsis. Auch in seiner Demokratischen Partei machten sich viele Strategen Sorgen um seine Chancen. Doch bei den Wählern kam der Kandidat mit dem breiten Lachen an.
Mehr Integrität im Weißen Haus
Carter warb damit, sich als Präsident am Vorbild Jesu Christi zu orientieren, so Lori Amber Roessner, Journalistik-Professorin an der Universität von Tennessee. Die Botschaft fand in einer vom Watergate-Skandal irritierten Nation Gehör. Bei Amtsantritt versprach er seinen Landsleuten in Abgrenzung zu Vor-Vorgänger Richard Nixon, immer die Wahrheit zu sagen - in Anspielung auf das achte der Zehn Gebote.
Die US-Amerikaner wünschten sich nach der Ära Nixon wieder mehr Integrität im Weißen Haus, sagt der Religionshistoriker Randall Herbert Balmer. Carter habe als "Sonntagsschullehrer aus dem Süden" dieser Vorstellung entsprochen, so der Herausgeber von "Christianity Today", dem Flaggschiff der evangelikalen Publizistik.
Gescheiterte Präsidentschaft
Als ehrlicher Politiker ist sich Carter stets treu geblieben. Dabei gilt seine Präsidentschaft insgesamt als weitgehend gescheitert. Die misslungene Befreiung von mehr als 50 US-Botschaftsangehörigen in Teheran 1980 markiert den Tiefpunkt seines Ansehens. Auf der Haben-Seite seiner Präsidentschaft steht sein Beitrag zum Friedensabkommen von Camp David zwischen Israel und Ägypten.
Carter verstand seine moralischen Werte als Kompass für die Politik. Christen seien aufgerufen, "sich in das Leben der Welt einzumischen", schrieb er 2018 in seinem Buch "Glaube: Eine Reise für alle". Er sei davon mehr als je zuvor überzeugt. Dieses Fundament seines Handelns führte er erstmals in einer Grundsatzrede an der katholischen Universität von Notre Dame am 22. Mai 1977 aus, wenige Monate nach Amtsantritt.
Für Demokratie und Menschenrechte
Die Außenpolitik müsse sich stärker an Menschenrechten orientieren; die Politik der USA sollte nach dem Ende des Vietnamkriegs auf eine neue Legitimationsbasis gestellt werden. Carters Beharren auf Einhaltung von Menschenrechten zeigte Wirkung. Durch seinen Druck auf Indonesiens Diktator Suharto (1967-1998) kamen fast 30.000 politische Gefangene frei. Carter hatte seinerzeit auch erreicht, dass 118.000 Juden aus der Sowjetunion auswandern konnten, von denen die meisten in die USA, einige nach Israel und Europa kamen.
Innenpolitisch versuchte der fromme Präsident ebenfalls, seinen Glaubenssätzen zu folgen. Er setzte sich für eine Gesundheitsversorgung für alle, gegen Erhöhungen im Militärbudget ein und geißelte das Steuergesetz als "Wohlfahrtsprogramm für die Reichen". Nach der Amtszeit engagierte sich der Politiker mit dem von ihm gegründeten Carter Center für die Verbreitung von Demokratie und Menschenrechten in aller Welt. 2002 bekam er für seine jahrzehntelangen Vermittlungsbemühungen in internationalen Konflikten den Friedensnobelpreis.
Erfolgreicher Erdnussfarmer
Obwohl als Ingenieur und Erdnussfarmer erfolgreich, verzichtete der Älteste von vier Geschwistern, der in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen war, auf eine Zurschaustellung seines eigenen Wohlstands. Die gepanzerte Limousine seiner Leibwächter sei teurer als sein kleines Haus in Plains, brachte es die "Washington Post" auf den Punkt.
Der Baptist bewies Unabhängigkeit, als er 2000 auf Distanz zur Southern Baptist Convention ging, denen er Jahre später vollständig den Rücken kehrte. Frauen würden in der konservativen Kirche diskriminiert, so seine Begründung. In seiner lokalen Gemeinde blieb er dennoch weiter aktiv. Später setzte er sich für die Ehe für alle ein. Jesus hätte jede Liebesbeziehung unterstützt, die "ehrlich und aufrichtig" ist, sagte er der "Huffington Post".
Praktizierender Christ
Für seine Beerdigung hat Carter selbst Vorbereitungen getroffen: Die Trauerrede solle ein Parteifreund halten, aber einer, der einer anderen Konfession angehört. Die Wahl fiel auf den Katholiken Joe Biden, wie er praktizierender Christ. "Er hat mich darum gebeten", bestätigte der amtierende US-Präsident die Bitte seines Freundes.
Bis es so weit ist, möchte Carter die verbliebene Zeit aber noch nutzen. Nach Angaben der Familie will er bei der Präsidentschaftswahl im November unbedingt seine Stimme abgeben - für Parteikollegin Kamala Harris.