Ehemalige Museumsdirektorin würdigt Käthe Kollwitz

"Als Künstlerin und Frau hochaktuell"

Wie kein Künstler ihrer Zeit hat Käthe Kollwitz den Themen Krieg, Tod und Trauer in ihrem Werk breiten Raum gegeben. Das war ein politisches Statement, aber auch die Verarbeitung der eigenen Schicksalsschläge, sagt Hannelore Fischer.

Hannelore Fischer spricht beim Aschermittwoch der Künstlerinnen und Künstler über Käthe Kollwitz (KKMK)
Hannelore Fischer spricht beim Aschermittwoch der Künstlerinnen und Künstler über Käthe Kollwitz / ( KKMK )

DOMRADIO.DE: Frau Fischer, Sie sprechen heute bei der "Akademie zum Aschermittwoch der Künstler" über Käthe Kollwitz. "Wie war mein Leben stark in Leidenschaft, in Lebenskraft, in Schmerz und Freude" – mit diesem Zitat der Künstlerin haben Sie Ihren Vortrag überschrieben. Wer war Käthe Kollwitz?

Hannelore Fischer (Ehemalige Direktorin des Käthe Kollwitz Museums Köln): Für mich ist Käthe Kollwitz ein großartiger Mensch und eine beeindruckende Künstlerpersönlichkeit, dabei politisch hellwach, was sie besonders interessant macht. Während des Studiums haben mich ihre Tagebücher als erstes begeistert – auch weil sie sprachlich so großartig geschrieben sind – dass ich mir über diese Lektüre ihr Werk erobert habe. Ihre Aufzeichnungen waren für mich tatsächlich zuerst die Grundlage, bevor ich mich mit ihrer Kunst auseinandergesetzt habe.

Die Eltern, Blatt 3 aus der Folge Krieg, Holzschnitt von 1921 (KKMK)
Die Eltern, Blatt 3 aus der Folge Krieg, Holzschnitt von 1921 / ( KKMK )

Kollwitz stammt aus einem dissidentischen Elternhaus – der Großvater hatte die freie evangelische Gemeinde in Königsberg gegründet, eine vergleichsweise kleine Gruppe, in der es kein Glaubensbekenntnis gab und die freie, sittlich-religiöse Selbstbestimmung des Einzelnen entscheidend war. Auch die Frauen hatten Stimmrecht. 

Kollwitz ist daher mit einem gewissen Selbstbewusstsein groß geworden, und ihr Vater – Jurist und später Bauunternehmer – ließ seine Tochter schon in frühen Jahren im weit entfernten Berlin, später auch für zwei Semester in München an den dortigen Künstlerinnenschulen studieren, weil er ihre Begabung und ihren Ehrgeiz erkannt hatte. Schon in Königsberg hatte sie die Hafenarbeiter gezeichnet. "Das Schöne ist das Hässliche", zitiert sie später Emil Zola. Das Proletariat machte auf sie einen großen Eindruck, während sie alles Bürgerliche langweilig fand. Später ist sie mit ihrem Mann nach Berlin gegangen, der eine Arztpraxis im Arbeiterviertel Prenzlauer Berg eröffnete. Mit "allem Leid der Welt" kam sie über die Praxis ihres Mannes in Kontakt, was sie besonders berührt hat, wenn es die ganz Kleinen betraf. Die "starben wie die Fliegen", beschrieb sie das.

DOMRADIO.DE: Was machte das mit ihr?

Mütter, Kreidelithografie von 1919 (KKMK)
Mütter, Kreidelithografie von 1919 / ( KKMK )

Fischer: Käthe Kollwitz – aus einem sozialistischen Elternhaus stammend – hatte in ihrem Frühwerk den Impetus zu Aufstand und Aufruhr. So hieß ja auch ihr erster grafischer Zyklus "Ein Weberaufstand". Zehn Jahre später folgte der "Bauernkrieg", sieben großformatige Radierungen zum ersten großen deutschen Aufstand in Folge der Reformation. Sie war der Meinung, es muss ein neues Deutschland entstehen. Sie war ein aktiver – wie gesagt – hellwacher Mensch. Von ihrem Großvater stammt ein Satz, den sie sich zueigen gemacht hat: Eine Gabe ist eine Aufgabe. Oder auch: Wer nach der Wahrheit, die er bekennt, nicht lebt, ist der größte Feind der Wahrheit selbst. Solche Sätze können für einen jungen Menschen auch eine Bürde sein, für sie aber wurden sie zu Wegweisern ihres Lebens und zur Grundlage ihres Schaffens.

Aschermittwoch der Künstlerinnen und Künstler

Der "Aschermittwoch der Künstlerinnen und Künstler" soll Begegnungen von Kirche und Kunst ermöglichen. Dazu gibt es zum Auftakt der Fastenzeit in zahlreichen deutschen Bischofsstädten Veranstaltungen. Die Initiative kam nach dem Zweiten Weltkrieg aus Frankreich. Dort strebte der katholische Schriftsteller Paul Claudel (1868-1955) einen spirituellen Neuanfang für Europa an.

Aschermittwoch der Künstler (KNA)
Aschermittwoch der Künstler / ( KNA )

DOMRADIO.DE: Käthe Kollwitz verliert gleich zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 ihren 18-jährigen Sohn Peter, was ihr künstlerisches Schaffen bis zu ihrem Lebensende 1945 prägen sollte. Im Zweiten Weltkrieg fällt 1942 dann auch noch ihr älterer Enkel. Schon zu Lebzeiten erhält sie den Beinamen "Künstlerin der Trauer". Gibt es überhaupt Kunstwerke von ihr, die sich nicht mit Krieg, Tod, Verzweiflung oder Armut auseinandersetzen?

Fischer: Ja, es gibt auch eine ganz andere Seite von Käthe Kollwitz: Sie hat sehr gerne gefeiert, sie war auf Maskenbällen, konnte ausgelassen sein. Es gibt Fotos von ihr, auf denen sie herzhaft lacht mit ihrem großen Mund. Aber natürlich wird immer wieder gefragt: War sie nicht in ihrer Grundstimmung depressiv? Es gibt auch diese dunkle Seite, aber wer nur depressiv ist, kann ein solches Werk nicht schaffen. Sie hatte einen starken Charakter, war zum Beispiel aber auch eine glückliche Großmutter. In ihrem Tagebuch beschreibt sie immer wieder ihre vier Enkel, früher schon ihre Söhne und auch andere Kinder, die sie beobachtet. Das ist in seiner Sensibilität, aber oft auch in seinem Humor wunderschön zu lesen. Zudem gibt es auch viele Mutter-Kind-Zeichnungen oder -Grafiken, auch wenn jetzt gerade ganz aktuell wieder ihre Tod- und Trauer-Motive dominieren. Das macht sicher einen Großteil ihres Werkes aus – sie war eine große Mitleidende – aber es gibt zum Beispiel auch Liebespaare und erotische Zeichnungen. Sie war ja durchaus auch eine sinnliche Frau, wie man ebenfalls den Tagebüchern entnehmen kann.

DOMRADIO.DE: Ihr Oeuvre ist in der Tat sehr umfangreich…

Hannelore Fischer, ehemalige Direktorin des Käthe Kollwitz Museums Köln

"'Ich will wirken in dieser Zeit', hat sie ins Tagebuch geschrieben. Sie hat Plakate entworfen wie ‚Nie wieder Krieg!’ oder 'Deutschlands Kinder hungern!'"

Fischer: Kollwitz verehrte Rodin, war zweimal zu Studien in Paris. Es gibt eine große Sammlung von Aktstudien, Porträts von Arbeitern wie vor allem auch im Frühwerk Radierungen von Arbeiterfrauen. Sie galt um 1907 als hervorragender Grafiker – wahrscheinlich damals als der beste in Deutschland. In den 1920er Jahren hat sie sich verstärkt politisch engagiert. "Ich will wirken in dieser Zeit", hat sie ins Tagebuch geschrieben. Sie hat Plakate entworfen wie "Nie wieder Krieg!" oder "Deutschlands Kinder hungern!". Es gab große Ausstellungen, wie sie auch schon früh international gesammelt wurde. Also, es gab viel, viel mehr als nur Krieg und Tod. Gerade ihre eindringlichen Porträtstudien sind wirklich großartig. Wir haben uns im Museum auch immer wieder mit ihren Techniken, dem Holzschnitt, der Radierung und der Lithografie auseinandergesetzt und dazu Ausstellungen gezeigt. Besonders die Technik der Radierung beherrschte damals niemand so wie Kollwitz.

Liebespaar, sich aneinander schmiegend, Kohle, 1909/10 (KKMK)
Liebespaar, sich aneinander schmiegend, Kohle, 1909/10 / ( KKMK )

Bei einem Mann hätte man das hoch gelobt. Bei ihr war das eher immer selbstverständlich. Ihre Bildmotive zeugen von einem unglaublichen Mut, wenn sie zum Beispiel Revolutionsthemen, mit denen sie ja auch berühmt geworden ist, anspricht. Das ist schon außerordentlich – in einer Zeit, als Künstlerkolleginnen wie Sabine Lepsius Stillleben oder Kinderporträts malten. Bereits 1903 existieren großartige Sammlungen von der Kollwitz: in Amsterdam, aber auch in New York, sogar in China war sie zu Lebzeiten schon berühmt, also eine weltweite Größe. Deshalb haben sich ja später auch die Nazis nicht wirklich an sie herangetraut.

DOMRADIO.DE: Wenn es nicht das menschliche, auch selbst erlittene Leid ist, das Käthe Kollwitz in ihren Arbeiten zeigt, dann prangert sie soziale Missstände an und fordert durch ihre Kunst mehr Solidarität mit den Schwachen. Ein solches politisches Statement ist für eine Frau zu Beginn des 20. Jahrhunderts doch eher ungewöhnlich…

Fischer: Käthe Kollwitz war ein mutiger Mensch. In ihren Tagebüchern schreibt sie über Politik und nordet sich diesbezüglich selbst auch ein. Seit 1919, als sie als Frau zum ersten Mal an die Wahlurne durfte, wählt sie sozialdemokratisch. So war sie von ihrem Vater, der in die Sozialdemokratie gegangen war, erzogen worden. Ebenso ihr Bruder, der wiederum einen engen Briefkontakt mit Friedrich Engels pflegte. Ihr Mann war als Arzt Stadtverordneter der SPD. Zuhause wurde immer – auch mit den beiden Söhnen – über aktuelle politische Themen diskutiert. 

DOMRADIO.DE: Als Museumsdirektorin haben Sie viele Ausstellungen initiiert, immer wieder auch den Dialog zwischen Käthe Kollwitz und anderen Künstlerkollegen hergestellt. Was ist Ihnen am nachhaltigsten in Erinnerung geblieben?

Fischer: Eine der für mich wichtigsten und berührendsten Ausstellungen war die der Selbstbildnisse 2017 mit dem Titel "Die Seele nach außen". Im Zusammenhang mit ihren Selbstbildnissen hat sie einmal den Satz gesagt: "Ich will Gott die Ehre geben, ich will wahr sein, echt und ungefärbt." Sie schönte eben nichts, auch ihre Selbstbildnisse nicht. Sie war immer direkt und klar in ihrem Ausdruck.

Hannelore Fischer, ehemalige Direktorin des Käthe Kollwitz Museums Köln

"Immer wenn Krieg herrscht, ist das Museum besonders gut besucht. Beim Irak-Krieg ist mir das zum ersten Mal aufgefallen, weil viele kamen, die die Auseinandersetzung mit dieser Realität suchten."

In den Gästebüchern des Museums finden sich immer wieder Worte wie "bewegend", "beeindruckend" und "aktuell". Ob das nun die Themen "Mutterliebe" und "Trauer" betrifft oder "Armut" und "Krieg". Immer wenn Krieg herrscht, ist das Museum besonders gut besucht. Beim Irak-Krieg ist mir das zum ersten Mal aufgefallen, weil viele kamen, die die Auseinandersetzung mit dieser Realität suchten. Auch eine Gruppe von Palliativmedizinern habe ich jahrelang durch die Ausstellung geführt. Das war für mich unglaublich bereichernd, was diese zu ihren Werken zum Thema "Tod und Sterben" sagten. Es gibt Besucher, gerade wenn sie selbst von Krankheit und Tod betroffen sind, für die diese Kunst ein großer Trost ist. Für mich war es einfach ein großes Geschenk, dieses Museum 37 Jahre lang leiten zu dürfen.

DOMRADIO.DE: Das Käthe Kollwitz Museum Köln beherbergt die größte Kollwitz-Sammlung und Sie kennen diese Künstlerin in- und auswendig. Wie aktuell ist diese Frau, von der es heißt, sie sei eine der bekanntesten Frauengestalten des 20. Jahrhunderts?

Hannelore Fischer, ehemalige Direktorin des Käthe Kollwitz Museums Köln

"Ich habe Besucher erlebt, die plötzlich vor ihren Bildern laut zu weinen begannen, weil sie derart emotionalisiert waren. Andere erzählen einem ihr ganzes Leben. Kollwitz löst dieses Bedürfnis aus, weil sie jeden persönlich anspricht."

Fischer: Unabhängig davon, dass Käthe Kollwitz eine beeindruckende Persönlichkeit ist, bleibt ihr Werk hochaktuell, weil ihre Themen ja nichts an Aktualität eingebüßt haben, vielmehr grundmenschliche Themen sind. Ich habe Besucher erlebt, die plötzlich vor ihren Bildern laut zu weinen begannen, weil sie derart emotionalisiert waren. Andere erzählen einem ihr ganzes Leben. Kollwitz löst dieses Bedürfnis aus, weil sie jeden persönlich anspricht. Und das ist auch der Grund, warum ich nie Audioguides gewollt habe. Wer vor diesen Blättern steht, soll nicht einer Stimme mit Erklärungen lauschen, sondern sich konfrontieren. Und wenn er sich darauf einlässt und sich selbst, sein Leben und seine Persönlichkeit einbringt, dann macht er eine essentielle Erfahrung und verlässt diesen Ort anders, als er gekommen ist.

Umschlungene, Kolhlezeichnung von 1909/10 (KKMK)
Umschlungene, Kolhlezeichnung von 1909/10 / ( KKMK )

An der Skulptur "Trauernde Eltern", eines ihrer Hauptwerke, das auf dem Deutschen Soldatenfriedhof im belgischen Vladslo, Westflandern, steht, einer der großen deutschen Gedenkstätten des Ersten Weltkrieges, hat Kollwitz 18 Jahre lang gearbeitet, so lange wie ihr Sohn Peter alt geworden ist. Allein in diesem Mahnmal zeigt sich ihr friedenspolitisches Engagement. Heute stehen Kopien davon in der Kölner Kirche St. Alban und eine weitere, vergrößerte Plastik von ihr, die "Mutter mit totem Sohn", in der Neuen Wache in Berlin, beides Ehrenmäler der Bundesrepublik Deutschland. Das allein sagt doch schon alles. Aktueller geht es eigentlich nicht.

DOMRADIO.DE: In Zeiten des Krieges, in denen wieder ein brutaler Diktator die Welt in Angst und Schrecken versetzt, viele Mütter ihre Söhne auf dem Schlachtfeld verlieren, braucht es Entschlossenheit und Mut, wie ihn Käthe Kollwitz damals gegen die Nazis aufgebracht hat, die ihre pazifistischen Werke nicht akzeptieren konnten. Was können wir heute von ihr lernen?

Pietà, Bronzeplastik von 1937-39 / © Beatrice Tomasetti (DR)
Pietà, Bronzeplastik von 1937-39 / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Fischer: Dass sie hochsensibel war und mit ihrem umfangreichen künstlerischen Werk, das sowohl ein großes menschliches als auch politisches Engagement zeigt, auch viel für die Menschen getan hat. Sie war ja zum Beispiel in den 1920er Jahren in der Friedensbewegung aktiv und hat früh "Mein Kampf" von Adolf Hitler gelesen, wollte politisch informiert sein. Man kann sagen: Sie wusste Bescheid und hat schon früh von der Möglichkeit eines neuen Krieges gesprochen. Sie hat Hitler die Stirn geboten hat, als sie bereits 1932 den "Dringenden Appell" gegen die Wahl der Nationalsozialisten unterzeichnet hat, was ausgesprochen mutig war, sie dann aber auch ihren Platz in der Akademie gekostet hat, wo sie im Übrigen die erste Frau überhaupt war – wie sie 1929 auch als erste Frau mit dem Orden Pour le Mérite für Wissenschaft und Künste ausgezeichnet wurde.

Und in diesem Appell, bei dem sich die SPD mit der KPD im Wahlkampf gegen Hitler vereinigen wollte und dessen zweiter verzweifelter Aufruf gerade 90 Jahre her ist, steht dieser beeindruckende, aber eben auch zeitlose und immer gültige Satz: "Sorgen wir dafür, dass nicht Trägheit der Natur und Feigheit des Herzens uns in die Barbarei versinken lassen!"

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

Quelle:
DR