DOMRADIO.DE: In den letzten 38 Jahren haben Sie in Ihrer Gemeinde St. Margareta ein lebendiges musikalisches Gemeindeleben entwickelt. Wie wichtig ist Musik als pastorales Instrument?
Klaus Wallrath (Kantor an St. Margareta in Düsseldorf-Gerresheim und Komponist): Sie ist nicht nur wichtig, sondern sogar ganz entscheidend. Musik hat die besondere Gabe, die Menschen auf eine Art anzusprechen, die unmittelbar emotional berühren kann. Insofern unterstützt sie die Liturgie und erhebt sie gewissermaßen – auf eine ganz eigene Weise. Geradezu ein Glücksfall ist es, wenn es hier ein gelingendes Zusammenspiel – auch ohne große Absprachen – zwischen Zelebrant und Kirchenmusiker gibt, Antennen ausgefahren werden und die Beteiligten bereit sind, aufeinander zu hören – was dann die Gemeinde, aber auch die jeweils Musizierenden in der Kirche sehr wohl wahrnehmen.
Gerade auch Kinder- und Jugendchöre, die mit Kirche nicht mehr allzu viel zu tun haben, sind dann – wenn sie spüren, dass genau dieses Zusammenspiel funktioniert – bereit, sich auf die Liturgie einzulassen und aus einem Gottesdienst einen Mehrwert, etwas Bereicherndes, mitzunehmen. Von daher ist die Kirchenmusik in unseren Gemeinden absolut unverzichtbar. Diese Erfahrung mache ich immer wieder. Ohne sie wäre alles nichts.
DOMRADIO.DE: Sie können sich glücklich schätzen, rückblickend eine Vielzahl an Sängerinnen und Sängern für die Liturgie begeistert zu haben. Wie kann so etwas gelingen?
Wallrath: Ganz wichtig ist Authentizität. Ich verstelle mich nicht, sondern bringe mich so, wie ich bin, in die Chorarbeit ein. Zeitlebens habe ich versucht, meine Freude an Musik, auch an der Musik in der Liturgie zum Ausdruck zu bringen, und gehofft, dass sich das dann auch auf die Sängerinnen und Sänger überträgt. Hinzu kommt ein Respekt vor den großen Werken der Musikliteratur.
Denn darin sehe ich ein großes Glück: sie zu musizieren, aber sie auch vermitteln zu dürfen. Denn das ist mir ein wichtiges Anliegen, möglichst vielen Menschen solche tiefgreifenden Vertonungen, Oratorien oder Messkompositionen, inhaltlich und musikalisch zu erschließen, so dass das nicht ohne Wirkung bleibt und sie einen Zugang zu dieser Musik bekommen. Das gilt übrigens nicht nur für Erwachsene, sondern vor allem auch für Kinder und Jugendliche, die in ihrer Freizeit ja nicht unbedingt ein Brahms-Requiem hören, den Wert einer solchen Musik aber dann tatsächlich schätzen lernen und sich berühren lassen.
Dann hatte ich das Glück, über eine lange Zeit hier an St. Margareta wirken zu dürfen. Eine solche Kontinuität ermöglicht Entwicklung und Reifung. Ich konnte Konzepte entwerfen und mithilfe der Ward-Methode schon bei der Jüngsten nach und nach Strukturen aufbauen, was dazu geführt hat, dass gerade junge Menschen Bindungen eingehen, dabei bleiben und vom Kinder- in den Jugendchor wechseln oder von diesem in den Erwachsenenchor.
So entstehen auch generationenübergreifende Projekte, bei denen junge und alte Menschen miteinander musizieren und voneinander lernen. Das erlebbar zu machen war mir immer wichtig, aber eben auch eine große Freude. Natürlich ist so etwas immer auch Teamarbeit, bei der viele mithelfen und mitwirken. Mir stehen Stimmbildnerinnen und Co-Chorleiter zur Seite, so dass ich schon früh einen systemischen Ansatz verfolgt habe.
DOMRADIO.DE: In der Corona-Zeit wurden Gemeinschaftsaktivitäten strikt unterbunden. Viele Chöre haben sich aufgelöst oder danach nicht wieder zu alter Stärke zurückgefunden. Wie haben Sie das erlebt? Kämpfen Sie noch immer mit den letzten Nachwirkungen der Pandemie?
Wallrath: Die Pandemie hat vieles verändert, gerade auch was die Leistungs- und Bindungsfähigkeit der Kinder und Jugendlichen anbelangt. Trotzdem ist es gelungen, alle Chorgruppen über die Pandemie zu retten. Sehr bewegend fand ich zu sehen, wie wichtig den Menschen gemeinschaftliche Projekte und eben vor allem gemeinsames Singen ist. Das konnte man an den Online-Proben ablesen, die zu einem ganz wichtigen Termin in der Woche wurden. Und die ersten gemeinsamen Projekte nach Corona waren dann auch besonders intensiv – das konnte man schon deutlich spüren – weil alle etwas ganz Wesentliches, das zu unserem Menschsein gehört, vermisst hatten. Aber Gott sei Dank schauen wir nach vorne und unsere Arbeit geht längst unvermindert weiter.
DOMRADIO.DE: Während es in anderen Gemeinden gerade mal einen Kirchenchor gibt, haben Sie systematisch unterschiedliche Chöre aufgebaut. Mit einem, Ihrem Kammerchor, treten Sie an diesem Wochenende innerhalb einer Konzertreihe in der Kölner Innenstadtkirche St. Ursula auf. Was macht das besondere Profil dieses Chores aus und was ist das für ein Konzert?
Wallrath: Der Kammerchor ist im Gegensatz zum Basilika-Chor, also dem Erwachsenenchor, und der Chorschule, die aus mehreren Kinderchorgruppen sowie der Jugendkantorei besteht und regelmäßig probt, ein Projektchor, der sich zwar auch aus ambitionierten Sängerinnen und Sängern der Gemeinde zusammensetzt, die Lust auf zusätzliche künstlerische Herausforderungen haben, aber auch aus semiprofessionellen Mitgliedern anderer Chöre der Region.
Sein Profil macht unter anderem die Wahl der Stücke aus, die mitunter abseits des Mainstream-Repertoires liegen – darunter zum Beispiel Oratorien aus dem 20. Jahrhundert: So hatten wir im Programm schon die St. Nicolas-Cantata von Benjamin Britten, den Totentanz von Arthur Honegger, Sept répons des ténebrès von Francis Poulenc, Via crucis von Pawel Lukaszeweski oder ein Osteroratorium, das ich selbst für den Figuralchor unter der Leitung von Richard Mailänder geschrieben habe. Das wurde vor zwei Jahren uraufgeführt und wird auch an diesem Ostermontag noch einmal in der Kölner Innenstadtkirche St. Pantaleon zu hören sein. In der Summe sind das alles Konzerte, die nicht zur gängigen Agenda einer Kirchengemeinde gehören. Zum Glück haben sich die Leute auf diese oft sehr exotische Wahl immer eingelassen, was mich natürlich sehr freut.
Das Konzert am Sonntag singen wir als a cappella-Konzert; es findet innerhalb einer vor vielen Jahren etablierten Konzertreihe des Erzbistums statt, bei der Kammerchöre aus der gesamten Diözese mitwirken. Organisator dieser Reihe ist der Odenthaler Regionalkantor Thomas Kladeck, bei dem sich die Chöre bewerben können. Unser Programm am Sonntag sieht die Motette „Singet dem Herrn“ von Bach, die „Fest- und Gedenksprüche“ von Brahms und zwei moderne Stücke vor: „Duo Seraphim“ von Rihards Dubra und „Laus Concordiae“ aus meiner Feder. Als Intermezzo spielt außerdem die junge 14jährige Cellistin Franka Bokuniewicz zwei Sätze aus dem Cellokonzert von Henri Casadesus.
DOMRADIO.DE: Grundsätzlich geht das Interesse an Kirchenmusik zurück, an den Musikhochschulen fehlt es an Nachwuchs für dieses Fach. Ist das allein die Kirchenkrise schuld? Oder muss auch die Kirchenmusik einem Relaunch unterzogen werden, neuen Bedürfnissen angepasst werden?
Wallrath: Die Kirche hat heute eine andere Bedeutung als zu der Zeit, als ich Kirchenmusik studiert habe. Daran trägt sie sicher auch ein gutes Stück Mitverantwortung. Aber daher hat sich vermutlich eben auch – zumindest zu Teilen – die Sicht auf den Beruf des Kirchenmusikers verändert, der nicht mehr in dem gekannten Maße attraktiv scheint. Andererseits mache ich die Erfahrung, dass eine ganze Reihe junger Leute, die in meinen Chören gesungen haben, heute Gesang, Schulmusik und auch Kirchenmusik studieren. Das zeigt doch, dass Erfahrungen im Chor oder beim gemeinsamen Musizieren prägend sein können, folglich in den Gemeinden ein wichtiger Grundstock gelegt wird. Außerdem gibt es einfach großartige Chorwerke in der Kirchenmusik, wenn ich da nur an die Klassiker denke: Passionen von Bach, Messen von Mozart, Oratorien von Mendelssohn. Da schöpfen wir aus einem unendlichen Fundus; das ist und bleibt ein zeitloser Schatz.
Dennoch ist es notwendig, dass die Kirchenmusik ihre Zukunftsfähigkeit reflektiert und sich dementsprechend aufstellt. Es gibt immerhin eine ganze Reihe kreativer und innovativer Hochschullehrer, die diesen Diskurs bereits führen, so dass sich dieses Fach in den letzten Jahren schon ein Stück weit geöffnet und auch breiter aufgestellt hat. Zu meiner Zeit war das alles noch viel sortierter. Erst allmählich kam neben dem, was klassischerweise ein Chor sang, das Neue geistliche Lied auf. Heute erwarte ich von meinen Chören, dass sie selbstverständlich die gesamte Bandbreite bedienen können und ich auch spartenübergreifend mit ihnen arbeiten kann.
DOMRADIO.DE: Finden Sie nach wie vor, dass Kirchenmusiker ein attraktiver Beruf ist?
Wallrath: Auf jeden Fall. Auch weil man von den Menschen viel zurückbekommt und dieser Beruf eine Menge Chancen bietet. Natürlich ist nicht ganz unwesentlich, in welcher Atmosphäre man arbeitet und ob das besagte Zusammenspiel Früchte trägt.
DOMRADIO.DE: Auch als Komponist sind Sie in all den Jahren immer aktiv gewesen, haben Messen, Motetten und Kinder-Musicals für unterschiedliche Anlässe geschrieben, so auch eine Vertonung vom Wappenspruch unseres Erzbischofs „Nos sumus testes“ zu seiner Einführung 2014. Wenn Sie im Sommer in den Ruhestand gehen, haben Sie sich in der Szene einen Namen gemacht und hinterlassen ein reiches musikalisches Erbe. Was hat Sie am Komponieren immer gereizt?
Wallrath: Es macht mir einfach großen Spaß, entspannt mich und ist immer wieder neu eine Quelle der Freude. Vieles, was ich komponiere, ist für die Praxis geschrieben. Manchmal gab es einen Anlass, für den ich selbst etwas brauchte, aber Passendes nicht gefunden habe. Oder aber es gibt Anfragen von Kollegen oder Dommusiken, die zu einem bestimmten Ereignis eine Motette oder Lied-Kantate bestellen. Auch für Katholikentage habe ich schon geschrieben.
Ein zweites größeres Feld sind in der Tat die Kindermusicals. Schon in den 1990er Jahren haben wir hier in Düsseldorf angefangen, als Kollegen solche Stücke gemeinsam zu schreiben, die wir dann auch gemeinsam aufgeführt haben und die schließlich in ganz Deutschland Erfolge gefeiert haben. Und immer wieder kommt noch etwas Neues dazu. So gelangt jetzt im März hier bei uns in Gerresheim „Joseph und seine Brüder“ mit einem Text von Florian Simson zur Uraufführung. Komponieren erfüllt mich sehr.
DOMRADIO.DE: Welchen Rat würden Sie Ihren Musiker-Kolleginnen und -kollegen geben und welchen den Pastören in den Gemeinden?
Wallrath: Zeit meines Lebens bin ich gut damit gefahren, grundsätzlich offen zu sein und dazu einzuladen, sich aufeinander einlassen und sich gegenseitig zuhören. Das gebe ich beiden, Kirchenmusikern wie Pastören, herzlich mit auf den Weg. Denn das ist der Schlüssel, um gut miteinander zu kommunizieren und zu kooperieren. Die wesentliche Voraussetzung aber ist die Freude an der Musik. Und dass andere spüren, dass einem mit dem eigenen Engagement ernst ist. Dann kann die Liebe zur Musik, die man selbst im Herzen hat, ansteckend sein und auf andere überspringen.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.