Domdechant Kleine spricht über Gottesdienstbesuche im Dom

"Mit Gott in den Tag starten"

Während die Kirchen an den Sonntagen immer leerer werden, erfreuen sich die Frühmessen unter der Woche wachsender Beliebtheit. Auch die vier im Kölner Dom. Wer kommt, nimmt etwas mit und erhofft sich Segen für den Tag.

Die Frühmessen im Kölner Dom verzeichnen eine festen Besucherstamm / © Beatrice Tomasetti (DR)
Die Frühmessen im Kölner Dom verzeichnen eine festen Besucherstamm / © Beatrice Tomasetti ( DR )

DOMRADIO.DE: Fast scheint es paradox, aber trotz Kirchenkrise und eher erschreckend rückläufiger Besucherzahlen verzeichnen die Werktags-Frühmessen im Kölner Dom einen verlässlichen Zulauf. Wie erklären Sie sich das?

Monsignore Robert Kleine bei der Frühmesse in der Marienkapelle / © Beatrice Tomasetti (DR)
Monsignore Robert Kleine bei der Frühmesse in der Marienkapelle / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Monsignore Robert Kleine (Kölner Stadt- und Domdechant): Es gibt einen festen Stamm an Gottesdienstbesuchern, der allerdings zahlenmäßig auch schon mal variiert und sich in der Regel pro Messe zwischen 30 und 50 Mitfeiernden einpendelt. Da wir mehr als zehn Geistliche am Dom sind, können wir dieses Angebot, das ich ganz wichtig finde, auch aufrechterhalten – was in einer kleinen Pfarrei natürlich so nicht gestemmt werden kann.

Jede unserer Frühmessen hat ihr ganz eigenes Gepräge. Die 6.30 Uhr-Messe ist etwas für Frühaufsteher und ohne Orgelspiel sicher mit etwa 30 Minuten Dauer auch die kürzeste Messfeier. Hier begegnet man Menschen, die es schätzen, die Messe in aller Ruhe – eher meditativ wie im Kloster – zu feiern, zumal auch die Gabenbereitung meist in Stille erfolgt. Manche lieben diese "puristische" Form, für die es früher in der Tat einmal den Begriff der "stillen Messe" gab. Oder sie müssen um 7 Uhr zur Arbeit; also ist diese Zeit für sie genau die richtige. Auch das Gebot der Nüchternheit spielt da vielleicht noch mit hinein, in jedem Fall aber der Gedanke, den Tag mit Gott beginnen zu wollen.

DOMRADIO.DE: Aber das gilt für die anderen Frühmessen sicher ja in gleicher Weise…

Kleine: Unbedingt. Mit dem Unterschied, dass die folgenden Eucharistiefeiern von der Orgel begleitet werden. Natürlich ist auch die 7.15 Uhr-Messe etwas für Berufstätige, die danach zur Arbeit gehen und sich bewusst einen solchen Einstieg in den Tag vornehmen, aber sich an der musikalischen Gestaltung freuen oder gerne selber mitsingen. Ähnlich ist auch die 8 Uhr-Messe gestaltet, aber die wird im DOMRADIO.DE-Livestream übertragen, damit die Gläubigen auch von zuhause aus mitfeiern können.

Ich kenne einige, die nicht in diese Messe gehen, gerade weil sie übertragen wird. Andererseits gibt es Messbesucher, die bewusst die Kapitelsmesse, mitfeiern, damit die übertragene Messe vom Gebet und Gesang der Mitfeiernden getragen ist. Und wer womöglich die ganze Woche kommt, kann sich darauf verlassen, dass er an sechs Tagen denselben Domkapitular antrifft, der dann mit einer ausführlicheren Einleitung oder einer kurzen Predigt sogar eine kleine thematische Reihe während dieser Woche entwickeln oder sich unter Umständen auf das tags zuvor Gesagte beziehen kann. Hier greift in der Regel: Wer das Hochamt am Sonntag zelebriert hat, gilt auch für die Kapitelsmessen der dann folgenden Woche als gesetzt. Das schafft eine personelle Kontinuität, die erfahrungsgemäß sehr geschätzt wird.

Und zur 9 Uhr-Messe schließlich kommen dann Gläubige, die nicht erwerbstätig sind, aber auch Touristen, die sich gerade in Köln aufhalten und direkt vom Frühstückstisch ihres Hotels in den Dom gehen, um diese Kathedrale in ihrer eigentlichen liturgischen Bestimmung zu erleben. Für andere wiederum – vor allem auch für die Alleinstehenden, und davon gibt es viele – schafft ein solcher Messbesuch eine feste Tagesstruktur, so dass die hier erfahrbare Gemeinschaftsbildung, selbst wenn nur für begrenzte Zeit, neben der pastoralen auch eine wichtige soziale Dimension hat. In diesen Messen gibt es erkennbar viele vereinzelte Menschen, so dass der Dom – im guten Sinne – auch ein Sammelbecken bzw. fester Treffpunkt für ganz unterschiedliche Gläubige von überall her ist.

Live: Advent und Weihnachten im Kölner Dom

Neben den Werktagsmessen um 8 Uhr und den Friedensgebeten an Werktagen um 12 Uhr überträgt DOMRADIO.DE im Advent und Weihnachten 2022 folgende Gottesdienste und Konzerte live aus dem Kölner Dom. Flyer zum Download (pdf)

Kapitelsamt am ersten Adventssonntag

27.11.2022 - 10:00

Pontifikalamt zur Eröffnung der Adveniat-Aktion

27.11.2022 - 10:00

Musikalisches Abendgebet

27.11.2022 - 18:00

 © Nicolas Ottersbach (DR)
© Nicolas Ottersbach ( DR )

DOMRADIO.DE: Den Großteil dieser Menschen kennen Sie meist nicht. Was möchten Sie ihnen in dieser kurzen Zeit vermitteln oder mitgeben? Ihre Begegnung bleibt schließlich ja sehr punktuell…

Erläuterungen zur Lesung oder eine Kurzpredigt zum Tagesheiligen sind fester Bestandteil der 8 Uhr-Messe / © Beatrice Tomasetti (DR)
Erläuterungen zur Lesung oder eine Kurzpredigt zum Tagesheiligen sind fester Bestandteil der 8 Uhr-Messe / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Kleine: Manchmal gibt es einen Tagesheiligen, den ich den Menschen nahebringen will. Kürzlich war der Gedenktag des Heiligen Martin, und dann gab es dazu das wunderbare Evangelium mit dem Satz "Was ihr dem Geringsten meiner Brüder oder Schwestern getan habt, das habt ihr mir getan". Daraus lässt sich doch ganz viel ableiten. Von daher spreche ich oft über manchen Kernsatz aus dem Tagesevangelium – natürlich in der für die Morgenstunde gebotenen Kürze. Oder aber es gibt eine sperrige Lesung, die unbedingt zusätzlicher Erläuterungen bedarf.

Es ist eine Errungenschaft des II. Vatikanischen Konzils, dass die Lesungen des Alten Testaments – die Propheten aber auch die Geschichtsbücher des Volkes Israel – zunehmend mehr in die Liturgie einbezogen wurden. Und das sind mitunter schwer verdauliche, richtig harte und auch brachiale Worte, mit denen das Ringen Gottes und seines Volkes dargestellt wird: Da ist von Krieg, Mord und Totschlag die Rede. Vieles davon klingt heute in unseren Ohren ziemlich fremd.

Domdechant Robert Kleine

"Die Zuhörer sollen etwas mit dem Text anfangen können. Wenn ich merke, hier wird es ganz knifflig, drängt es mich, dazu etwas zu erklären, weil ich mich nur allzu gut in mein Gegenüber hineinversetzen kann und es mir ein Anliegen ist, dass da nichts über die Menschen hinweggeht, sondern sie mit einem geistlichen Impuls in ihren Tag gehen."

Aber als Christen sollten wir eben auch unsere Wurzeln kennen. Jedenfalls ordne ich solche Lesungen in ihren historischen Kontext ein, damit sie verständlicher werden und das dann folgende "Dank sei Gott" den Zuhörern auch ehrlich über die Lippen kommen kann. Sie sollen etwas mit dem Text anfangen können. Wenn ich merke, hier wird es ganz knifflig, drängt es mich, dazu etwas zu erklären, weil ich mich nur allzu gut in mein Gegenüber hineinversetzen kann und es mir ein Anliegen ist, dass da nichts über die Menschen hinweggeht, sondern sie mit einem geistlichen Impuls in ihren Tag gehen.

Und nach dem Wortgottesdienst feiern wir dann Eucharistie miteinander. Beide Teile der Messe geben vielen Menschen Kraft für ihre tagtäglichen Herausforderungen. Da gilt wörtlich: "Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt."

DOMRADIO.DE: Die 8 Uhr-Gottesdienste, sagen Sie, feiern viele Menschen digital mit. Gibt es Erhebungen, wie viele Menschen sich da über DOMRADIO.DE zuschalten?

Dom- und Stadtdechant Msgr. Robert Kleine / © Beatrice Tomasetti (DR)
Dom- und Stadtdechant Msgr. Robert Kleine / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Kleine: Diese Übertragung gibt es nun seit über zehn Jahren und ist eine überaus segensreiche Einrichtung. Im Schnitt verfolgen sie etwa 20.000 Menschen, sonntags beim Kapitelsamt sind es sogar 175.000. DOMRADIO.DE ermöglicht vielen alten und kranken Menschen, die nicht mehr in eine Kirche gehen können, aber auch Deutschen im Ausland die Mitfeier einer Messe zuhause an ihren Empfangsgeräten.

Sie werden ja auch ausdrücklich zu Beginn eines Gottesdienstes als "mitfeiernde Gemeinde" und nicht als "TV-Zuschauer" begrüßt und von überall her in den Ablauf integriert. Das ist uns ganz wichtig. Deshalb werden von der Redaktion auch die Liednummern aus dem Gotteslob zum Mitsingen eingeblendet. Dann ist das so, als seien sie live mit dabei, wofür sehr viele Menschen sehr dankbar sind.

In Leserzuschriften, die uns aus dem gesamten deutschsprachigen Raum und darüber hinaus erreichen, kommt das immer wieder zum Ausdruck. Da gibt es oft Rückmeldungen auf einzelne Zelebranten und berührende Worte, mit denen uns geschildert wird, was diese Mitfeier jemandem bedeutet. Manchmal wird auch die kurze Predigt in schriftlicher Form in der Domseelsorge angefordert, und selbstverständlich reagiere ich persönlich auf Anregungen oder auch Kritik. Da geht nichts unter.

Dem Kantor wurden sogar schon Grüße ausgerichtet. Oder zuletzt erreichte mich eine Mail aus den USA. Man wundert sich manchmal, wie weit unser Einzugsgebiet geht. Also, hier gibt es ganz viel positive Resonanz, die uns zeigt, wie sehr die Menschen sich über dieses liturgische Angebot freuen.

DOMRADIO.DE: Dagegen ernüchternd sind die Zahlen der Besucher von den Sonntagsmessen. Da gab es früher doch einen viel größeren Besucherkern, der sich aber doch merklich ausgedünnt hat…

Kleine: Leider ja. Corona hat diese Entwicklung fast mit einem Quantensprung beschleunigt. Ich würde sogar behaupten, durch die Pandemie sind wir unserer Zeit 20 Jahre voraus. Zunächst hatten die Leute Sorge, sich in gut besuchten Gottesdiensten anzustecken. Dann aber haben sich einige irgendwann über die TV-Gottesdienste entsprechend eingerichtet.

Ich weiß von nicht wenigen, die zu Hause vor dem Bildschirm mitfeiern, Kerzen anzünden und kräftig die angezeigten Lieder mitsingen. Hinzu kommt: Noch vor einigen Jahren war der sonntägliche Messbesuch für viele ein selbstverständliches Ritual. Nun aber haben sie für sich festgestellt, es geht auch ohne. Es fehlt ihnen scheinbar nichts, wenn sie nicht mehr in die Kirche gehen.

Und mancher Jugendliche fühlt sich leider zunehmend als letzter Mohikaner nach dem Motto "Da kenne ich doch keinen mehr" und sucht sich ein anderes Gemeinschaftserlebnis.

DOMRADIO.DE: Pandemie hin oder her – steckt dahinter nicht sehr viel mehr? Und wie könnte man diese Haltung der – sagen wir mal – Gleichgültigkeit denn aufhalten?

Kleine: Natürlich liegen die Gründe tiefer. Es geht um eine kontinuierliche Entwicklung, die durch Corona – wie gesagt – nur noch zusätzlich an Fahrt aufgenommen hat. In unserem vom Christentum geprägten Land müssten wir wieder viel deutlicher ins Bewusstsein bringen, was wir da Sonntag für Sonntag eigentlich feiern: nämlich die Auferstehung Jesu Christi. Was in der Konsequenz bedeutet, eine Stunde am Sonn- und Feiertag Gott zu widmen, der die Welt erschaffen hat, dem wir unser Leben verdanken und der uns an Ostern eine Tür zum ewigen Leben eröffnet hat.

Grundsätzlich scheinen aber viele das Bewusstsein für den Sonntag verloren zu haben; er wird geradezu nivelliert, wenn man an vielen Orten sonntags inzwischen auch einkaufen kann, der verkaufsoffene Sonntag sogar zu einer großen Attraktion geworden ist und damit gleichzeitig seine Aushöhlung stattfindet, was natürlich für die Kirche ein enormer Verlust ist. Aber ganz unabhängig vom religiösen Aspekt – hier geht auch ein gutes Stück Kultur verloren.

Wer die Frage "Wozu brauche ich eigentlich (einen) Gott?" stellt, braucht schon erst recht keinen Gottesdienst mehr. Dabei ist die Eucharistie laut Zweitem Vaticanum doch "Quelle und Höhepunkt christlichen Lebens". Mir gibt das Kraft. Aber seien wir mal ehrlich: Wie viele Christen erleben diese Feier denn noch wirklich als einen "Höhepunkt" der Woche?

Domdechant Robert Kleine

"Es gibt kaum etwas weniger Evangelisierendes als eine Messfeier, in der – ich karikiere etwas – der Priester quasi als ‚One-man-Show’ alleine am Sonntag im Altarraum agiert, alle Texte selber liest, dabei schlecht zu verstehen ist und bei der Predigt unvorbereitet scheint bzw. eine Vorlesung hält…"

DOMRADIO.DE: Immer wieder monieren auch überzeugte Kirchgänger, dass ihnen die Art der Gottesdienstgestaltung nichts mehr gibt. Was antworten Sie denen?

Kleine: Natürlich müssen wir Priester uns als Vorsteher der Eucharistie an die eigene Nase fassen und selbstkritisch fragen: Sind unsere Gottesdienste noch lebendig gestaltete Feiern, bei denen die Gemeinschaft der Gläubigen aktiv einbezogen wird und "tätige Teilnahme" – participatio actuosa – gewährleistet ist zum Beispiel über den Lektoren-, Messdiener- oder Kommunionhelferdienst?

Es gibt kaum etwas weniger Evangelisierendes als eine Messfeier, in der – ich karikiere etwas – der Priester quasi als "One-man-Show" alleine am Sonntag im Altarraum agiert, alle Texte selber liest, dabei schlecht zu verstehen ist und bei der Predigt unvorbereitet scheint bzw. eine Vorlesung hält…

2019, also vor Corona, lag der durchschnittliche Gottesdienstbesuch am Sonntag im Erzbistum Köln bei 7,9 Prozent. Im vergangenen Jahr lag er nur noch bei 3,39 Prozent. Klar, diese jährlichen Erhebungen waren immer schon eine große Herausforderung, und das wird nicht mehr besser. Das heißt, wir sind in jedem Fall gefordert, den Gemeinschaftscharakter unseres Zusammenkommens zur Eucharistiefeier wieder mehr zu stärken, nach außen zu tragen und erfahrbar zu machen.

Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Umso ermutigender ist für mich die Tatsache, dass es Menschen gibt, die trotz dieses gegenläufigen Trends nicht darauf verzichten wollen, mit Gott jeden Morgen in den Tag zu starten.

Das Interview führte Beatrice Tomasetti.

Quelle:
DR