Die "vertrauliche Geburt" schützt Mutter und Kind

"Das Moses-Babyfenster ist für uns eher der Worst case"

Nicht für jede Frau bedeutet eine Schwangerschaft Freude pur. Bei manchen gerät die eigene Lebensplanung ins Wanken, andere verdrängen schlichtweg die bevorstehende Geburt – bis zum Schluss. Hilfe in jeder Konfliktsituation gibt es beim SkF.

Autor/in:
Beatrice Tomasetti
Jesuskind im Kölner Karmel. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Jesuskind im Kölner Karmel. / © Beatrice Tomasetti ( DR )

Als Lisa Weiss* bemerkt, dass mit ihr etwas nicht stimmt, ist die 17-Jährige bereits im siebten Monat schwanger. Lange Zeit hatte sie die Gewichtszunahme ignoriert, sich nicht damit beschäftigen wollen, dass es naheliegende Gründe für die zusätzlichen Pfunde geben könnte. Eindeutige Symptome wie Übelkeit oder Abgeschlagenheit führt sie auf eine vorübergehende Magenverstimmung zurück. Auf Nachfragen zu ihrer äußeren Veränderung gibt die Schülerin ausweichende Antworten und kaschiert den wachsenden Bauch mit lockeren Pullis. Täglich wird das Lügennetz dichter. Der Verdrängungsmechanismus funktioniert – auch für sie selbst. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Keiner ahnt, dass sich das junge Mädchen in eine zunehmend auswegslose Konfliktsituation manövriert, weil es sich niemandem anvertrauen will. Die Ursache: panische Angst. Erst im letzten Moment – da steht sie kurz vor der Entbindung – sucht sie sich Hilfe und stößt im Internet auf das Thema "Vertrauliche Geburt". Für sie ist klar: Niemand darf von diesem Kind erfahren. Nicht die Eltern und auch nicht ihr türkischer Mitschüler, der Vater des Kindes. Das will sie ganz alleine regeln. Zu groß ist die Scham.

Beate Laux, die Leiterin der esperanza-Schwangerschaftsberatung in Köln, ist am Telefon, als sich Lisa dort weinend meldet. Es ist Freitagnachmittag, das Wochenende steht bevor, und nun muss die Sozialpädagogin ganz schnell handeln, um das für solche Fälle implementierte Hilfesystem ins Rollen zu bringen, alle daran beteiligten Stellen noch rechtzeitig ins Bild zu setzen, Absprachen zu treffen und vor allem Lisa über Möglichkeiten und Konsequenzen einer vertraulichen Geburt aufzuklären, da sie unbedingt anonym bleiben will. "In Extremsituationen wie diesen steigt der Adrenalinspiegel enorm. Die Schwangere unbemerkt von ihrer Familie in eine Klinik zu bringen, wird zum Drahtseilakt", erklärt die 62-Jährige, die große Erfahrung mit Menschen wie Lisa hat. "Trotzdem hat der Schutz von Mutter und Kind in solchen Fällen absolute Priorität und erfordert unsere ganze Aufmerksamkeit."

SkF unterstützt schwangere Frauen in Konfliktsituationen

Zum Glück bekämen sie solche Anrufe in der sprichwörtlich allerletzten Minute nicht oft. Doch damit es dann nicht zu Kurzschlussreaktionen komme, müssten für die werdende Mutter alle Hebel in Bewegung gesetzt werden. "Viel schlimmer wären eine heimliche Geburt ohne ausreichende medizinische Versorgung der Gebärenden und eine Kindsaussetzung, die wir unbedingt verhindern wollen", so Laux. Gerade deshalb gebe es seit 2015 die gesetzlich geregelte vertrauliche Geburt – "damit wir Menschen in einer emotionalen Ausnahmesituation eine Lösung aufzeigen können, sie jede notwendige Hilfe bekommen, selbst wenn der Vorgang geheim bleiben soll."

Natürlich würde die Expertin in der Schwangerschaftsberatung gerne sehr viel früher ansetzen und Frauen in Not die ganze Palette möglicher gesetzlicher Unterstützungsangebote sowie solcher des Sozialdienstes katholischer Frauen (SkF) und anderer Träger vorstellen. "In den meisten Fällen gelingt das auch, wenn sich die Frauen gleich zu Beginn oder in einem früheren Stadium ihrer meist ungewollten Schwangerschaft an uns wenden, so dass wir vor, während und nach der Geburt ihres Kindes für sie da sein können", sagt Laux. "Denn das ist im Interesse von Mutter und Kind. Schließlich wollen wir bei den Betroffenen für Entlastung sorgen." Allein in diesem Jahr seien bei "esperanza" etwa 1400 Beratungsgespräche geführt worden. "Ziel ist immer, egal in welcher Ausnahmesituation sich eine Frau aufgrund ihrer Schwangerschaft befindet, unmittelbar für jede Form der Krisenintervention ansprechbar zu sein und sie zu einer tragfähigen Entscheidung für ihr Leben zu bringen – und wenn das am Ende eines langen Weges bedeutet, das Kind nach der Geburt zur Adoption freizugeben."

Ein strukturiertes Netzwerk mit transparenten Abläufen

Was passieren kann, wenn keinerlei Hilfe in Anspruch genommen wird, zeigt die traurige Geschichte von Elias, dem neugeborenen Säugling, der im Sommer von seiner Mutter vor der Moses-Babyklappe von Haus Adelheid in Bilderstöckchen abgelegt worden war. Als ihn eine Mitarbeiterin der Einrichtung findet – der Alarm wurde nicht ausgelöst, weil das Kind nicht in das dafür vorgesehene Fenster mit dem Wärmebettchen gelegt worden war – kommt für den kleinen Jungen jede medizinische Hilfe zu spät. Die eingeschaltete Polizei ermittelt nach vier Wochen die Mutter, die bereits vier Kinder hat, ihre fünfte Schwangerschaft vor ihrem gesamten Umfeld, sogar ihrem eigenen Mann, verbergen konnte, und sich nun wegen Totschlags verantworten muss.

"Natürlich ist es immer besser, ein Baby – wenn es tatsächlich keinen anderen Ausweg zu geben scheint – in einer Babyklappe abzulegen, weil damit im Regelfall erst einmal eine Gefährdung des Kindes verhindert wird", sagt Anne Rossenbach, Sprecherin und Referentin für sozialpolitische Grundsatzthemen beim Kölner SkF am Mauritiussteinweg. Trotzdem kritisiert sie, dass es bundesweit keine verlässlichen Standards für diese sogenannten Moses-Fenster und Babyklappen gibt und es daher viele unterschiedliche Anbieter, darunter auch Kirchengemeinden, gebe, die es zwar gut meinten, aber letztlich nicht an ein funktionierendes Hilfesystem – wie in Köln – angeschlossen seien. Ganz abgesehen von den dramatischen Folgen für das Kind, das zeitlebens damit zurecht kommen müsse, anonym geboren worden zu sein. Der SkF als zentrale Anlaufstelle für Frauen in akuter Notlage verfüge hingegen über ein strukturiertes Netzwerk und – das ist ihr ganz wichtig – transparente Abläufe, die einer anonymen Geburt vorbeugen wollten.

Für manche dauert Herkunftssuche ein Leben lang an

"Die Alarmierung der Rettungsstelle, der Polizei, des Kinderkrankenhauses, des SkF als Träger von Haus Adelheid und zuständig für die Inobhutnahme des Säuglings, sowie die Informationsketten mit dem Jugendamt, der Adoptionsstelle, der Staatsanwalt und anderer Stellen werden im Ernstfall minutiös nach Protokoll abgespult. Wobei das Kindeswohl im Zentrum steht", betont Rossenbach. "Aber natürlich sind wir, wenn in der Babyklappe der Alarm geht, in Gedanken immer auch bei der Mutter, die sich zu einer solchen Verzweiflungstat entschieden, vermutlich heimlich entbunden hat und nun auf keinerlei medizinische Versorgung oder psychologische Hilfe zurückgreifen kann."

"Für jeden – auch Jahrzehnte später noch – bleibt es eine riesengroße Kränkung, von den leiblichen Eltern nicht gewollt zu sein", weiß Beate Laux aus Erfahrung. "Mancher schleppt so ein Paket ein ganzes Leben mit sich herum. Niemals etwas von der Geschichte der eigenen Geburt in Erfahrung bringen zu können, liegt oft wie ein Schatten auf der eigenen Biografie. Nicht zu wissen, woher man kommt, bedeutet für die Betroffenen großes Leid, das auch nie vollständig aufgelöst werden kann." Für manche dauere ihre Herkunftssuche unter Umständen ein Leben lang und gewinne gerade im Kontext von Krisen und Brüchen große Bedeutung. "Ich kenne Menschen, die sind selbst mit 70 und 80 noch nicht fertig mit dem Thema." Auch Rossenbach betont: "Man muss sich freimachen von der naiven Haltung: Klappe auf, Baby rein, alles gut." Für Kinder sei ein solcher Start ins Leben, selbst wenn sie bei Pflege- oder Adoptiveltern ein liebevolles Zuhause finden würden, eine große Hypothek.

Vertrauliche Geburt ist ein gesetzlich geregeltes Hilfsangebot

Auch für die Erziehungsaufgabe von Adoptiveltern stelle ein "Moses-Kind" eine enorme Herausforderung dar. Der Mensch definiere sich nun mal klar auch über seine Herkunft. "Von daher ist das Moses-Babyfenster für uns eher der ‚worse case’", sagt Beraterin Laux, "und eine vertrauliche Geburt die wünschenswertere Alternative, die zudem auf einer klaren Rechtsbasis stehe. "Schwangere in einem krisenhaften Zustand haben oft einen Tunnelblick und sehen keinen Ausweg. Unsere Aufgabe besteht dann darin, für diese Frauen ein Fenster zu öffnen und Lösungen aufzuzeigen. Wir wünschen uns immer die Chance, in einer Notsituation helfen zu können, also einbezogen zu sein, ohne dass jemand in akuter Panik eine Entscheidung trifft und auf sich allein gestellt bleibt." In der Schwangerschaftsberatung werde darauf hingearbeitet, dass sich niemand gezwungen sehe, sein Kind auszusetzen oder gar zu töten – was im Übrigen auch ein Moses-Fenster nicht verhindere.

In Deutschland kann jede Frau, die ihre Schwangerschaft geheim halten möchte, den Weg der vertraulichen Geburt wählen und so medizinisch sicher entbinden. Dabei wird sie von einer Beraterin, die an die gesetzliche Schweigepflicht gebunden ist, vor und auch nach der Geburt begleitet. Nur sie erfährt einmalig die Identität der Schwangeren. Danach werden diese persönlichen Daten sicher verschlossen unter einem Pseudonym beim Bundesamt für zivilgesellschaftliche Aufgaben hinterlegt. Frühestens mit 16 Jahren hat dann ausschließlich das Kind das Recht, seine Identität und damit etwas von seiner Herkunft zu erfahren. "Die vertrauliche Geburt ist ein gesetzlich geregeltes Hilfsangebot, für das bundesweit einheitliche Vorgaben in allen Geburtskliniken und Krankenhäusern gelten", erklärt SkF-Sprecherin Rossenbach. "Nach der Geburt nimmt das Jugendamt das Baby in Obhut, das Kind erhält einen vom Familiengericht bestellten Vormund und es wird ein Adoptionsverfahren eingeleitet, wenn sich die leibliche Mutter nicht für ein Leben mit ihrem Kind entscheidet."

Verdrängung und Lügenkonstrukt machen einsam

Die damit einhergehende Beratung sei in der Regel für die betroffene Mutter kein einfacher Prozess und ende auch nicht unbedingt mit dem Zeitpunkt der Geburt. Denn unabhängig davon, ob eine Frau ihr Kind in der Babyklappe ablege oder sie vertraulich entbunden habe – der Weg zurück zu ihrem Kind werde ihr offengehalten, erläutert die Expertin. "Wir hoffen immer, dass eine Mutter ihre Anonymität aufgibt und sich meldet. Dann können wir sie unter Umständen auch dazu bringen, ihrem Kind einen Brief zu schreiben, ihm darin die Beweggründe zu erklären, warum sie es nicht behalten hat und was sie sich aber trotzdem für die Zukunft ihres Kindes – zum Beispiel an Werten – wünscht." Solche hinterlegten Briefe, auf die das Kind erst mit 16 Jahren Zugriff habe und die als Botschaft für seine Persönlichkeitsentwicklung aber elementar wichtig sein könnten, ließen es nicht im Ungewissen, sondern könnten als Erklärung für einen späteren Verarbeitungsprozess sehr hilfreich sein. "Ein Kontakt zwischen der leiblichen Mutter und ihrem Kind – auch zu einem viel späteren Zeitpunkt und bis zum 16. Lebensjahr mit Einverständnis der Adoptiveltern – ist immer möglich."

Rossenbach ist froh, dass der SkF in den letzten Jahren ein verlässliches Netzwerk an Hilfen zur vertraulichen Geburt geschaffen hat, auch wenn die Fallzahlen am Ende gering sind. Dabei zählt für sie zum wichtigsten Anliegen in einer Beratung – wenn sie denn in Anspruch genommen wird – auf eine Entscheidung hinzuarbeiten. Laux berichtet, sie habe schon oft erlebt, dass Frauen ihre Schwangerschaft lange negieren und damit völlig aus ihrem Bewusstsein abspalten würden, zumal sie in dieser subjektiv als Krise wahrgenommenen Situation mitunter gar kein Gefühl für ihre eigene Körperlichkeit hätten. Ihr gut funktionierendes Lügenkonstrukt isoliere sie zunehmend und mache schließlich einsam, was im Übrigen alle diese Frauen, so unterschiedlich ihre Geschichten auch seien, miteinander verbinde: die Wahrnehmung, mutterseelenallein zu sein gemacht.

Sich bei "esperanza" zu melden ist erster wichtiger Schritt

"Ich erinnere mich an eine Frau", schildert Beraterin Laux, "die selbst im achten Monat ein kaum sichtbares Bäuchlein hatte. Erst in dem Moment, als sie mit uns gemeinsam eine Entscheidung für sich getroffen hatte, wuchs der Bauch mit einem Mal zu seiner für die fortgeschrittene Schwangerschaft normalen Größe. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Kind der Mutter den Gefallen getan, sich zu verstecken. Das mag merkwürdig klingen, ist aber manchmal so. Das heißt, eine Entscheidung – so oder so – entlastet. Und dann ist wichtig, einen Abschied zu gestalten, der sich richtig anfühlt."

Trotzdem: Den klassischen Fall gebe es in der Schwangerschaftsberatung nicht. Es seien auch nicht unbedingt immer nur junge Mädchen, die nicht mehr weiter wüssten. "Die Geschichten, mit denen wir konfrontiert werden, sind so vielfältig wie die Menschen selbst. Manche haben keinen Kontakt mehr zum Kindsvater, sind verlassen worden oder haben Verlustängste, wenn sie die Schwangerschaft öffentlich machen. Andere fühlen sich – auch finanziell – völlig überfordert, und wieder andere leben in einer Gewaltbeziehung oder aber sind Opfer einer Vergewaltigung geworden. Jeder Fall ist individuell und muss als solcher auch gesehen werden", unterstreicht Beate Laux. "Eine moralische Bewertung steht mir da nicht zu; das ist nicht meine Rolle. Ich muss auch nicht verstehen, warum es zu einer Krise gekommen ist. Aber ich habe Mitgefühl, muss mit professioneller Distanz von außen draufschauen und biete in jedem Fall meine Hilfe an."

Und sie sei dankbar für den Vertrauensvorschuss, den sie bekomme, wenn sich Frauen in ihrer Not bei "esperanza" meldeten. Das sei schon mal ein erster wichtiger Schritt. "Eine Geburt ist ein zutiefst emotionales Ereignis – auch wenn sie nicht für alle Beteiligten Glück und Freude pur bedeutet. Immer aber – und darauf richtet sich unser Fokus – geht es um ein Kind und darum, dass es bestmöglich ins Leben entlassen wird."

*Der Name wurde von der Redaktion geändert.


Jesuskind in der Altstadtkirche Groß St. Martin. / © Beatrice Tomasetti (DR)
Jesuskind in der Altstadtkirche Groß St. Martin. / © Beatrice Tomasetti ( DR )
Quelle:
DR