Die verborgenen Geschichten namenloser Frauen in der Bibel

Unsichtbare Heldinnen

Manche Frauen spielen in der Bibel zwar eine bedeutende Rolle, doch Namen erfährt man teilweise nicht. Die Theologin Claudia Sticher untersucht das Phänomen namenloser Frauen in der Bibel. Sie hat eine Theorie dafür.

Symbolbild Eine Frau liest in der Bibel / © shine.graphics (shutterstock)
Symbolbild Eine Frau liest in der Bibel / © shine.graphics ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Wenn eine Frau in der Bibel vorkommt und keinen Namen hat, liegt das dann daran, dass sie weniger wichtig ist oder in der Hierarchie des damaligen Lebens weit unten angeordnet ist?

Dr. Claudia Sticher (Beauftrage für biblische und theologische Bildung, theologische Grundsatzfragen und Bibelpastoral im Bistum Mainz): In jedem Fall war das meine und unsere erste Idee, als wir angefangen haben, nach diesen Frauen zu fahnden. Und oft stimmt das auch.

DOMRADIO.DE: Aber nicht immer?

Eine aufgeschlagene Bibel und eine Kerze / © shine.graphics (shutterstock)
Eine aufgeschlagene Bibel und eine Kerze / © shine.graphics ( shutterstock )

Sticher: Genau. Es gibt diese Frauen, die einfach nur als "die Tochter von", "die Frau von" oder vielleicht auch "die Magd von" genannt werden. Dann aber dachte ich, vielleicht muss man noch ein bisschen gründlicher forschen. So habe ich ausgerechnet im Johannesevangelium eine ganz interessante Spur entdeckt. Dort gibt es eine ganz wichtige Frau, die Mutter Jesu.

Wir dürfen mit guten Gründen davon ausgehen, dass deren Name ja bekannt war. Aber im ganzen Johannesevangelium wird sie niemals mit ihrem Namen genannt, sondern immer als "die Mutter Jesu" bezeichnet.

Das fand ich interessant, denn das ist eine Frau, von der man auf keinen Fall sagen kann, dass ihr in der Heiligen Schrift keine Bedeutung zukommt.

DOMRADIO.DE: Haben Sie denn auch herausgefunden, woran das liegen könnte? 

Sticher: Eine Ahnung oder eine Spur, die mir zumindest sehr plausibel erscheint und die auch weiterführt, ist folgende. In dem Moment, wo ich einer Person, einer Figur in der Schrift oder in anderen Büchern der Literatur keinen Namen gebe, halte ich das eventuell auch offener für Möglichkeiten, mich zu identifizieren oder Anknüpfungspunkte zu finden.

Es ist für uns ja immer eine wichtige Frage: Wie komme ich denn mit diesem Abstand von vielen Jahrhunderten in den Text hinein? Wann bin ich denn vielleicht auch angesprochen? Das Johannesevangelium ist da ein gutes Beispiel.

Es gibt da die Mutter Jesu, die keinen Namen hat und alles andere als bedeutungslos ist

Es gibt dann noch eine männliche Figur, nämlich den Jünger, den Jesus liebte. Auch er hat keinen Namen. Es könnte sein, dass es für uns Lesende durch alle Zeiten hindurch eine Einladung ist. Vielleicht sind wir ja hin und wieder wenigstens ein kleines Stück dieser Jünger, diese Jüngerin, die Jesus liebt. Und dann können wir unsere Geschichte in diesem Text wiederfinden oder uns diesem Text anvertrauen.

DOMRADIO.DE: Sie haben als Alttestamentlerin auch einen entsprechenden Blick auf diese Texte geworfen. Was denken Sie, haben denn die Schreiber damit bezweckt, wenn sie die Namen hier weggelassen haben?

Sticher: Teilweise ist es dieses allererste Vorverständnis, dass man die Geschichte eines berühmten Mannes erzählen will. Wenn man sich beispielsweise das Buch Hiob, der leidende Gerechte, anschaut. Da taucht auch seine Frau in wenigen Versen auf. Die heißt dann einfach nur "seine Frau" oder "die Frau des Hiob".

Ich glaube, dort ist dieses erste Verständnis zugrunde gelegt: Im Mittelpunkt steht der Mann. Der wird mit seinem Namen genannt und überliefert. Und die Frau steht tatsächlich am Rande.

Da finde ich den folgenden Aspekt spannend, der wohl schon der jüdischen Tradition aufgefallen ist. Es gibt in späteren Schriften ein Buch, das Testament des Hiobs. Da hat die Frau auf einmal einen Namen. Das fand ich sehr interessant.

Also offensichtlich wollen sich die Leserinnen und Leser gar nicht immer mit dieser Namenlosigkeit abfinden. Dieser erste Impuls oder dieser erste Reflex, dass derjenige oder diejenige, die keinen Namen hat, weniger wichtig ist, scheint ganz tief in uns drin zu sein. Mein erster Reflex war das auch.

DOMRADIO.DE: Was heißt das denn für uns heute?

Sticher: Ich habe viel gelernt, weil ich glaube, dass hin und wieder die Texte differenzierter sind. Es gibt diese einlinige Sache. Dann gibt es aber auch den Umstand, dass Personen in der Bibel nicht als historische Persönlichkeiten wahrgenommen werden wollen, sondern als Figuren, als fast so etwas wie überzeitliche Kristallisationspunkte, an denen sich Traditionen anhaften, die dann das einzelne Ereignis noch ein bisschen übersteigen.

Wenn die namenlos bleiben, dann bleiben die auch offener. So wird es für uns leichter, sich in diese Figuren, die nicht durch einen Namen festgelegt werden, hineinzufühlen oder auch in den Text einzutreten.

Das Interview führte Dagmar Peters.

Die Bibel

Bibel ist die Schriftensammlung, die im Judentum und Christentum als Heilige Schrift gilt. Auf den Schriften fußt jeweils die Religionsausübung. Die Bibel des Judentums ist der dreiteilige Tanach, der aus der Tora, den Nevi’im und Ketuvim besteht. Diese Schriften entstanden seit etwa 1200 v. Chr. im Kulturraum der Levante und Vorderen Orient und wurden bis 135 n. Chr. kanonisiert. Das Christentum übernahm alle Bücher des Tanachs, ordnete sie anders an und stellte sie als Altes Testament (AT) dem Neuen Testament (NT) voran.

Eine Bibel liegt aufgeschlagen auf einem Tisch (KNA)
Eine Bibel liegt aufgeschlagen auf einem Tisch / ( KNA )

 

Quelle:
DR