Die Leiterin der bayerischen Krisenseelsorge

"Eine Antwort auf die Frage nach dem Warum haben wir auch nicht"

Der Amoklauf eines baden-württembergischen Realschulabsolventen fordert nicht nur Polizei und Psychologen, sondern auch die Kirchen. Im KNA-Interview erläutert die Leiterin der bayerischen Krisenseelsorge, Gabriele Rüttiger, am Freitag in München, was die Kirche zur Bewältigung einer solchen Katastrophe beitragen kann.

Autor/in:
Christoph Renzikowski
 (DR)

KNA: Frau Rüttiger, nach dem Amoklauf von Winnenden stellen sich viele die Frage nach dem Warum. Hat die Kirche eine Antwort?
Rüttiger: Wir Menschen wollen in solchen Situationen gern eine Antwort. Polizei und Psychologen suchen nach den Beweggründen für die schreckliche Tat. Es gibt Erklärungselemente, Facetten, aber eine Antwort auf die Frage, warum das passiert ist, können wir letztlich nicht geben.

KNA: Trotzdem ist die Kirche stark gefragt im Moment. Es finden etliche Gedenkgottesdienste und Trauerfeiern statt. Welchen Trost kann die Kirche spenden?
Rüttiger: In erster Linie geht es nicht um Trost, sondern darum, dass die Menschen einen Ort zum Trauern haben, an dem auch Seelsorger und Seelsorgerinnen da sind, die nicht wegschauen, sondern Not und Leid Trauernder mit aushalten.

KNA: Bei solchen Ereignissen schwärmen heute zeitgleich mit Sanitätern und Polizisten auch Notfallseelsorger aus. Was ist deren wichtigste Aufgabe?
Rüttiger: Sie sind Ersthelfer. Da geht es darum, mit den anderen Einsatzkräften im Chaos einer solchen Situation eine Struktur zu schaffen, die Sicherheit und Ruhe gibt. Notfallseelsorger fangen Menschen auf, sorgen dafür, dass jemand, der unter Schock steht, eine Decke und etwas zu trinken bekommt, aber auch einen Menschen an seiner Seite hat, der für ihn Zeit hat, ihm zuhört, mit ihm schweigt..

KNA: Um ein schweres Trauma zu verarbeiten braucht es auch langfristige Hilfe. Was können Seelsorger da tun?
Rüttiger: Zunächst gilt: Wo jemand traumatisiert ist, muss ein psychologischer Fachmann ran. Da gibt es spezialisierte Therapeuten, das ist nicht unsere Kompetenz als Seelsorger. Wir können aber Brücken bauen, dass Betroffene an die richtigen Stellen kommen.
Kontinuierliche Begleitung vor Ort leisten allerdings unsere Religionslehrer und Schulseelsorger, sie stehen zu Gesprächen zur Verfügung, nicht nur für Schüler, sondern auch für Lehrer, Hausmeister, Sekretärinnen. Zentrale Feiern, nicht nur in diesen Tagen, auch nach einem Jahr, sind sinnvoll.

KNA: Manche Experten sagen, wo so etwas wie in Winnenden passiert ist, muss die Schule geschlossen werden, weil sie als Unterrichtsgebäude unbrauchbar geworden ist.
Rüttiger: Darüber wurde auch schon vor sieben Jahren in Erfurt diskutiert. In Winnenden haben immerhin zwölf Menschen aus der Schule den Tod gefunden, da dürfte es tatsächlich sehr schwierig sein, das Gebäude unverändert weiter zu nutzen. Vermutlich müssen die Räume, in denen Menschen erschossen wurden, umgestaltet werden.
Da würde ich auf jeden Fall investieren, in Farbe und Form. Und:
Verstorbene einer Schule, auch aufgrund von Unfällen oder schweren Krankheiten, sollten einen Ort in der Schule bekommen, einen, der gut gestaltet ist und nicht abschreckend wirkt. Künstler haben dafür oft das richtige Feeling.

KNA: Bei der Ursachenanalyse von Amokläufen an Schulen kommt neben dem leichten Zugang zu Waffen, schlechten Noten und dem exzessiven Konsum gewalthaltiger Computerspiele auch das Thema Mobbing zur Sprache. Täuscht der Eindruck, dass gegenseitige Kränkungen unter Schülern zunehmen?
Rüttiger: Ob es mehr geworden ist, kann ich nicht sagen. Sicher war die Intensität früher nicht so groß und die Hemmschwelle höher. Es gibt leider zu wenig Erwachsene, die das Problem im Gespräch mit Jugendlichen thematisieren oder ihnen Alternativen bieten, ihre Aggressionen anders loszuwerden.

KNA: Welche Rollen spielen die Medien, Stichwort Handykamera, Internet und Castingshows?
Rüttiger: Ich finde es grundsätzlich katastrophal, wenn die Achtung vor dem Menschen auf der Strecke bleibt. Wenn in den Medien gedemütigte Menschen ausgestellt werden, kann das schon bei weniger gefestigten jungen Leuten den Eindruck erwecken, das sei erlaubt.

KNA: Wie gehen katholische Schulen mit Mobbing um?
Rüttiger: Ich habe selber eine zeitlang an einer katholischen Schule gearbeitet. Da fiel mir auf, dass die Lehrer dort sehr wach waren dafür, wie Schüler miteinander umgehen. Es gibt bei uns Streitschlichter und Tutoren wie an öffentlichen Schulen auch. Ein gutes Projekt ist "Zeit für uns" an einigen Schulen des Erzbistums München-Freising. Unter der Leitung von Schülern kommen dort eine Stunde in der Woche in wechselnden Fächern die Probleme zur Sprache, die sie betreffen. Das sollten wir ausbauen und die jungen Leute dafür weiter qualifizieren.

KNA: Sind kirchliche Schulen vor Amokläufern besser geschützt?
Rüttiger: Eine schwierige Frage. Was man vom Täter von Winnenden bisher weiß, handelte es sich um einen eher ruhigen Schüler, wie man ihn auch an einer katholischen Schule finden kann. Sicher, die Lehrer tun viel für die Schüler, für die Schulkultur - das Miteinander - in den kirchlichen Schulen. Es geht uns ja in erster Linie um den Menschen. Aber verhindert das absolut einen Amoklauf?
Ich hoffe, dass uns so etwas nie passiert, aber ganz sicher sind wir letztlich nicht. Absolute Sicherheit gibt es nicht im Leben. Sich dieser Tatsache zu stellen und damit leben zu lernen ist eine Lebensaufgabe. Seelsorger können dabei helfen.