Die Berlinale beugt sich über den Patienten Deutschland

Ruinenromantik und Überwachungsstaat

60 Jahre Bundesrepublik, 20 Jahre nach dem Mauerfall:
An diesen Gedenkjahren kommt auch die Berlinale nicht vorbei. Am Freitag widmeten sich 13 deutschsprachige Kino-Regisseure dem "Patienten Deutschland" und machten sich an eine Bestandaufnahme "zur Lage der Nation". Und die fiel ausgesprochen vielfältig aus und spiegelt damit vielleicht am besten den gegenwärtigen Zustand des Landes. "Deutschland 09": eine Gesellschaft im Umbruch von Globalisierung und Identitätsverlust.

Autor/in:
Christoph Scholz
 (DR)

Was hat sich getan seit jenem Film «Deutschland im Herbst» von 1978, seit jener ersten Bestandsaufnahme deutscher Befindlichkeiten unter dem Eindruck des RAF-Terrorismus? Damals wirkten elf Regisseure, darunter Volker Schlöndorff, Alexander Kluge und Rainer Werner Fassbinder an der Koproduktion mit.

In der neuen Regie-Generation knüpft nur Nicolette Krebitz am «Deutschen Herbst» an. In «Die Unvollendete» versetzt sie eine 16-Jährige in einen imaginären Dialog mit der RAF-Terroristin Ulrike Meinhof und der USA-amerikanischen Schriftstellerin Susan Sontag. Doch der Versuch, sie ins Gespräch zu bringen, scheitert. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil beide dem Lebensgefühl und der Lebenserfahrung der 16-Jährigen fremd bleiben. Sie sucht vergeblich das Politische und dreht sich doch ganz um die eigene Person.

Der ideologische Diskurs der 68er, gespeist aus dem Geist der Utopie und dem Hass auf die herrschenden Verhältnisse, ist 2009 verflogen. Bezeichnenderweise sind es der türkisch-stämmige Fatih Akin und der Österreicher Hans Weingartner, die sich explizit politisch äußern. Akin lässt ein Interview mit Murat Kurnaz nachspielen. Der Sohn türkischer Einwanderer war fünf Jahre ohne offizielle Anklage im US-Gefangenenlager Guantanamo inhaftiert.

Weingartner inszeniert in seinem Film «Gefährder» den Fall Andrej Holm. Das Bundeskriminalamt überwachte den Soziologiedozenten und seine Familie elf Monate lang, weil ein von Holm geprägter Fachbegriff im Bekennerschreiben einer militanten Gruppe aufgetaucht war. Freiheit und Rechtsstaatlichkeit werden Sicherheit und Überwachungsstaat geopfert, so die Botschaft.
Keine Verkündigungen
Ansonsten fehlt der großer Gestus, kein Gesellschaftsentwurf, keine hehren Verkündigungen - selbst die friedliche Revolution von 89 scheint kein Thema zu sein. Stattdessen eher Privates oder Sozialkritik, Farce, Satire oder Untergangsromantik. Letzteres etwa im Experimentalfilm von Christoph Hochhäusler «Seance», bei dem eine Frau auf einer zukünftigen Mondkolonie den längst vergessenen Namen «Deutschland» in den Mondsand schreibt.

Weniger pathetisch, dafür aber umso ruinen-romantischer verfolgt Dominik Graf auf altem Super-8-Material den Wandel der Zeit in der Architektur: kaltes Glas und Stahl statt Risse im Verputz und Unkraut zwischen Ziegelsteinen. Deutschland zerbröckelt unter warmem Sonnenlicht. Beim Schweizer Hans Steinbichler droht Deutschland gar der Totalzusammenbruch zumindest für den Industriellen Beintl, nämlich, als die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» plötzlich ihr Layout ändert: Bunt und ohne Fraktur-Schrift über den Kommentaren!
Beintl rächt sich schrecklich an der Redaktion.

Solcherlei Identität gehört für den Vertriebschef eines Düsseldorfer Mode-Lables in Tom Tykwers «Feierlich reist» längst der Vergangenheit an. Halt und Heimat bieten ihm die Mariot-Hotels, Starbucks-Cafes und der Computer. Wolfgang Becker will die Heimat hingegen so schnell nicht verloren geben. Bei ihm herrscht Hochbetrieb in der maroden Deutschland-Klinik. Denn sie steht wegen Optimierungsdruck kurz vor dem Sozialinfarkt. Einzig in der Geriatrie stauen sich die Betten, weil die Senioren nicht «sozialverträglich frühableben». Aber auch sonst läuft nichts so recht nach Plan. Die Telefonzentrale vermittelt in die Endlosschleife, und in der Orthopädie versucht man vergeblich, einen Patienten «umzukonditionieren», der beim Kniescheibenreflex-Test den Hitler-Gruß macht. Schließlich erklingt von Ferne aus der Geriatrie ein altes Lied, das den Betrieb ins Stocken bringt und in das schließlich alle einstimmen. Sehnsucht statt Politik.