Der Theologe Zulehner würdigt die Sozialenzyklika "Rerum Novarum"

"Soziallehren fallen nicht vom Himmel"

Vor 120 Jahren nahm Papst Leo XIII. mit der ersten Sozialenzyklika "Rerum Novarum" umfassend zur sozialen Frage Stellung und legte damit den Grundstein für die "Christliche Soziallehre". Er ging deshalb auch als "Arbeiterpapst" in die Geschichte ein. Für den österreichischen Theologe Paul Michael Zulehner hat das Dokument bis heute Gültigkeit.

 (DR)

In einer Festrede am Montagabend in Wien, die er im Rahmen der Veranstaltung "120 Jahre Rerum Novarum" im österreichischem Parlament hielt, skizzierte Zulehner, welche Lehren heute noch aus der Sozialenzyklika des Jahres 1891 sowie ihrer Vor- und Wirkungsgeschichte gezogen werden können. Das päpstliche Schreiben, dessen 120. Erscheinungsjubiläum man in diesem Jahr begeht, charakterisierte der Redner dabei als zukunftsweisendes und immer noch gültiges Dokument.



Soziallehren wachsen "von unten"

Die Entstehungsgeschichte von "Rerum Novarum" illustriere vor allem, dass Soziallehren "nicht vom Himmel fallen", erklärte Zulehner: Leo XIII. habe sie schließlich nicht "auf Grund einer einsamen Inspiration am Betschemel" verfasst, sondern vor dem Hintergrund eines Besuchs der "Freiburger Vereinigung" beim Heiligen Stuhl. Nach der Audienz der internationalen Arbeitsgemeinschaft, der auch Freiherr Karl von Vogelsang angehörte, habe der Papst ein Memorandum erbeten, das als Grundlage der Sozialenzyklika fungierte.



Soziallehren und politische Programme wachsen, so Zulehner, stets "von unten", weshalb man die leidenden Menschen selbst als ihre Autoren bezeichnen müsse. Um vom erlittenen Leiden zum politischen bzw. kirchlichen Text zu gelangen, brauche es aber "Nach-Denker", die in die Lebenswelt der Betroffenen eintauchten und in politischer Anstrengung Abhilfe zu schaffen versuchten. Ohne diese Versenkung in das alltägliche Leiden der Menschen könnten die von diesen Denkern formulierten Programme keinerlei Wirkung entfalten, zeigte sich Zulehner überzeugt. Wie das Proletariat zur Erscheinungszeit der Sozialenzyklika gelitten habe, sei erschütternd und angesichts zeitgenössischer sozialstaatlicher Errungenschaften kaum vorstellbar: In der "Wiener Kirchenzeitung" und der Monatsschrift "Vaterland" erschienene Beschreibungen der Lebensumstände der Arbeiterschaft legten davon beredtes Zeugnis ab.



Wer Unrecht nachhaltig beheben will, muss beständig lernen

Wer durch konkretes sozialpolitisches Engagement Unrecht nachhaltig beheben wolle, müsse, wie die Vor- und Nachgeschichte von "Rerum Novarum" illustriere, dazu bereit sein, beständig zu lernen. Die Katholische Kirche sei jedoch seit Mitte des 19. Jahrhunderts vielfältig daran behindert gewesen, die soziale Herausforderung angemessen wahrzunehmen und auf ihre Lösung hinzuwirken, führte Zulehner aus, die "beharrenden Kräfte", die sie umklammerten, wären stark gewesen. Dass vor ihren Augen eine tiefgreifende soziale, politische und geistige Revolution stattfand, wollten, so Zulehner, viele nicht wahrhaben.



Das Rundschreiben "Rerum Novarum" verhalf der Anerkennung der neuen Realität schließlich zum Durchbruch und holte die Kirche "aus sozialromantischen Träumen auf den Boden der realen Entwicklung". Doch auch dieser Schritt war nur eine Momentaufnahme innerhalb eines nie endenden Lernprozesses, wie die lange Liste weiterer Lehrschreiben illustriere, die diese Enzyklika nach sich zog: Mit "Laborem exercens" knüpfte Papst Johannes Paul II. 1981 schließlich unmittelbar an "Rerum Novarum" an, erklärte Zulehner.



Lernen spiele sich, wie der Redner ausführte, aber auch stets vor dem Hintergrund der technologischen, sozialen und politischen Bedingungen ab, die sich zunehmend rascher veränderten. Den "Quantensprung von der Dampfmaschine zum Microchip" habe man sozialethisch und -politisch aber längst nicht aufgearbeitet, gab Zulehner zu bedenken: Naturwissenschaft und Finanzmärkte hätten eine immense Eigendynamik entwickelt, deren Tempo ökologisch wie sozialpolitisch kaum einzuholen sei.



Soziale Frage ist eine globale

Ständig zu lernen, bedeute im sozialpolitischen Bereich aber auch, voneinander zu lernen, führte Zulehner aus. Das setze wiederum wechselseitigen Respekt, Wertschätzung, Stärke und Demut voraus. Interessen seien stets begrenzt. Der sozialpolitische Fortschritt könne nur gewinnen, wenn zwar alle Seiten ihre Eigeninteressen erkennen und vertreten, zugleich sich aber deren Begrenztheit bewusst sind. Auch gelte es zu begreifen, dass die soziale Frage längst keine nationale oder europäische, sondern eine globale geworden ist.



Die katholische Soziallehre, die seit ihren Anfängen den Menschen, seine unantastbare Würde und sein Recht auf Arbeit und Überlebensgüter ins Zentrum gestellt hat, trage der wichtigen und sensiblen Balance zwischen den Polen Freiheit und Gerechtigkeit mit den zeitlosen und für alle lehrreichen Prinzipien der Subsidiarität und Solidarität Rechnung. Es sei schließlich nicht einfach, "der Freiheit Gerechtigkeit abzuringen", stellte Zulehner in Anlehnung an den französischen Dominikaner Jean B. Lacordaire fest. "Es gibt keine Freiheit ohne Solidarität", zitierte er Johannes Paul II., aber man sollte auch lernen, dass es auf Dauer auch keine Gerechtigkeit ohne Freiheit gibt.