Misereor-Länderreferent über Hungerkrise auf Madagaskar

"Der Staat scheitert permanent"

Mehr als eine Million Menschen hungern im Süden Madagaskars. Hilfsorganisationen zeichnen ein dramatisches Bild der Lage. Für die aktuelle Krise gibt es laut Misereor-Länderreferent Frank Wiegandt mehrere Gründe.

Straßenszene in Madagaskar / © Mikhail Dudarev (shutterstock)
Straßenszene in Madagaskar / © Mikhail Dudarev ( shutterstock )

KNA: Herr Wiegandt, seit längerem schon warnen Hilfsorganisationen vor einer Hungerkrise im Süden Madagaskars. Erleben wir gerade eine Katastrophe mit Ansage?

Frank Wiegandt (Länderreferent des Werks für Entwicklungszusammenarbeit Misereor): Alarm wurde schon Ende 2020 geschlagen. Unterernährung im Süden Madagaskars ist leider ein chronisches Problem. Allerdings hat das Ausmaß von Hunger deutlich zugenommen. Seit mehreren Jahren gab es keine kontinuierlichen Regenfälle mehr. In der Region sind die Menschen am Ende ihrer Möglichkeiten angelangt. Sie verkaufen jetzt sogar schon Küchenutensilien oder haben den Süden verlassen, um sich in der Hauptstadt Antananarivo oder anderen Orten ein alternatives Einkommen zu erwirtschaften - wobei Corona die Mobilität auch auf Madagaskar massiv eingeschränkt hat.

KNA: Gibt es neben der Dürre andere Ursachen für die jetzige Krise?

Wiegandt: Ja. Dazu gehört etwa eine mangelhafte Infrastruktur, weil der Süden des Landes jahrzehntelang vom Staat vernachlässigt wurde. Bewaffnete Banden treiben ihr Unwesen, die den Landwirten ihr Vieh stehlen. Gleichzeitig machen Brandrodung und Abholzung das Land immer unfruchtbarer. In ganz Madagaskar laufen zudem die Gegenden, die noch fruchtbar sind, Gefahr verstärkt von Großinvestoren beispielsweise aus China, Korea oder den Golfstaaten gepachtet zu werden. Das kann mitunter von heute auf morgen geschehen, ohne dass die Kleinbauern, die das Land seit Generationen bewirtschaften, darüber informiert worden wären oder gar Mitspracherechte hätten.

KNA: Wie kann das passieren?

Wiegandt: Das hängt mit schlechter Regierungsführung zusammen. Die Eliten denken nur an ihre eigenen Interessen und nicht an die Bevölkerung. Korruption ist weit verbreitet. Wenn zum Beispiel Mittel für den Bau von Straßen freigegeben werden, versickert ein Großteil in obskuren Kanälen. Bei der Bevölkerung kommt kaum etwas an.

KNA: Scheint so, als ob politisches Versagen in Madagaskar Tradition hätte.

Wiegandt: Obwohl Madagaskar seit seiner Unabhängigkeit nie einen Bürgerkrieg gekannt hat oder in bewaffnete Konflikte mit anderen Staaten involviert war, hat sich das Land seit seiner Unabhängigkeit vor gut sechs Jahrzehnten nicht entwickelt. Im Gegenteil: 1960 stand es besser da als heute. Ein Hauptgrund neben der Kolonialgeschichte und der weiter bestehenden, oft unguten Verbindung zur alten Kolonialmacht Frankreich liegt im Verhalten der Politiker. Sie nehmen die Menschen in Geiselhaft für den eigenen Profit. Der Staat scheitert permanent: beim Kampf gegen die Korruption und bei der Einlösung seiner Versprechen gegenüber der eigenen Bevölkerung.

KNA: Was können Helfer unter solchen Bedingungen bewirken?

Wiegandt: Fortschritte gibt es letzten Endes nur, wenn wir mit Akteuren der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Ein wichtiger Partner für Misereor ist die katholische Kirche. Mit ihr können wir punktuell und lokal sehr gut Entwicklungsprojekte voranbringen - und erreichen die Zielgruppen, ohne dass korrupte Behörden Mittel abzweigen.

KNA: Stellt die Staatengemeinschaft genug Geld für Hilfsprogramme bereit?

Wiegandt: Generell ist die Finanzierung zu niedrig für ein Land wie Madagaskar, das so groß ist wie Deutschland und Polen zusammen und etwa 27 Millionen Einwohner hat. Die Mittel reichen nicht aus, um einen wirklichen Schritt nach vorn zu machen.

KNA: Warum ist das so?

Wiegandt: Das frage ich mich auch immer wieder. Über Madagaskar wird wenig gesprochen; selten berichten große Medien direkt von vor Ort. Dabei ist die Insel ein potenziell reiches Land mit einer sehr alten Kultur. Ich würde mir wünschen, dass es mehr Engagement für die Menschen dort gäbe.

Das Interview führte Joachim Heinz.


Quelle:
KNA