Der Präsident des Bundes der Vertriebenen über Flüchtlinge

"Es ist das gleiche Leid"

Vor 70 Jahren, am 21. November 1945, beschlossen die Alliierten einen Plan zur "ordnungsgemäßen Umsiedlung" in Europa.  Ab Januar 1946 wurden 14 Millionen Deutsche aus der Tschechoslowakei, Polen und Südosteuropa vertrieben.

1946: Vertriebene steigen in einen Güterzug (KNA)
1946: Vertriebene steigen in einen Güterzug / ( KNA )

Im Gespräch legt der Präsident des Bundes der Vertriebenen, Bernd Fabritius (CSU), seine Sichtweise dar.

KNA: Herr Fabritius, ist die Flüchtlingslage nach dem Zweiten Weltkrieg mit der heutigen vergleichbar?

Fabritius: Es gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Was im Potsdamer Protokoll 1945 von den Siegermächten als geordnete und humane Überführung der Deutschen festgehalten wurde, hat so nie stattgefunden. Dafür gab es Massenvergewaltigungen, vollständige Entrechtung und Vertreibungsgräuel. Davon stand nichts in den alliierten Plänen. Damals kamen Brüder und Schwestern aus unserem Kulturkreis in eine völlig zerstörte Landschaft. Heute kommen kulturell Fremde in eine liberale Überflussgesellschaft. Damals kam die ganze Gesellschaft: Männer, Frauen und Kinder. Heute erreichen uns überwiegend Jugendliche und junge Männer. Die Herausforderungen sind also anderer Art.

KNA: Welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen Flüchtlingen und Vertriebenen?

Fabritius: Es ist das gleiche Leid. Das Traumaempfinden ist mit Sicherheit individuell gesehen gleich schrecklich. Flüchtlingen steht deshalb nicht weniger Hilfe zu als den Vertriebenen damals. Es darf auch keine Opferkonkurrenz geben. Und es gibt sie auch nicht. Mir fällt auf, dass das Engagement für Flüchtlinge langsam auch die Empathie gegenüber den Heimatvertriebenen stärkt.

KNA: Hat es nach dem Zweiten Weltkrieg an Empathie für die Vertriebenen gefehlt?

Fabritius: Es ist zwar gelungen, Verständnis für die materielle Hilfsbedürftigkeit der Vertriebenen zu wecken. Doch zugleich gab es einen Mangel an Empathie für die Traumata von Vertriebenen. Daraus sollten wir lernen, Empathiemangel und Fremdenfeindlichkeit früher entgegenzutreten. Es war falsch, Vertriebene als Kartoffelkäfer und Wildschweine zu beschimpfen, wie dies vielerorts geschah. Genauso falsch ist es heute, Flüchtlinge pauschal als Islamisten zu bezeichnen.

KNA: Woraus speisen sich die Bedenken gegen die Aufnahme von Flüchtlingen heute, woraus speiste sich die Ablehnung Vertriebener damals?

Fabritius: Wenn man die Kartoffeln zählen muss, sind zusätzliche Mitesser nicht willkommen. Heute klagen Landräte und Bürgermeister über Überforderung durch die hohe Zahl bei ganz anderen Voraussetzungen für die Ersthilfe: Heute gibt es beispielsweise Brandschutzauflagen, die es nach dem Zweiten Weltkrieg gar nicht gab. Und viele Menschen fürchten, dass es Integrationsprobleme geben wird.

KNA: Teilen Sie diese Sorge?

Fabritius: Es gibt kulturelle Unterschiede, zum Beispiel bei der Akzeptanz der Gleichberechtigung von Mann und Frau. Das stellt uns als Gesellschaft vor die Aufgabe, unsere Werte zu verteidigen. Und die Flüchtlinge vor die Aufgabe, sich anzupassen. Sie müssen zum Beispiel akzeptieren, dass Frauen in Deutschland moderne Kleidung tragen dürfen.

KNA: Gefährden kulturelle Unterschiede aus Ihrer Sicht die Integration?

Fabritius: Ich leite aus kulturellen Unterschieden kein Integrationshemmnis ab. Jeder, der will, kann sich integrieren. Wer das nicht tun möchte, weil er glaubt, dass eine Integration seine Identität gefährdet, der sollte Deutschland im eigenen Interesse verlassen. Flüchtlinge dürfen nicht der Versuchung erliegen, fremde Werte in Deutschland durchsetzen zu wollen. Dann hätten sie auch zu Hause bleiben können.

KNA: Sie haben zur Empathie mit Flüchtlingen aufgerufen...

Fabritius: Ich habe zur Empathie aufgerufen, weil gerade wir Vertriebe wissen, was es bedeutet, die Heimat zu verlieren. Empathie entspricht unserem christlichen Menschenbild.

KNA: Gilt das auch für Ihre Amtsvorgängerin Erika Steinbach (CDU), die als Bundestagsabgeordnete jüngst auf Twitter gegen gewalttätige Flüchtlinge und zu viele Muslime polemisierte?

Fabritius: Selbstverständlich! Irgendwelche Twitter-Stellungnahmen von Kollegen im Deutschen Bundestag bewerte ich jedoch nicht.

KNA: Folgt man Historikern, hat die Integration von 14 Millionen Vertriebenen, zum Beispiel von Protestanten im katholischen Bayern, zu einem entspannteren Miteinander der Konfessionen beigetragen. Glauben Sie, dass die Integration der überwiegend muslimischen Flüchtlinge analog dazu das Verhältnis der Religionen entkrampfen könnte?

Fabritius: Ganz im Gegenteil: Der Islam liegt in seiner Transformation in die Moderne Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte hinter dem Christentum zurück. Dem Islam fehlt eine Reformation. Das ist aber nichts, was ich fordere. Religion ist frei.

KNA: Können die Flüchtlinge mit ihrem Leistungswillen und ihren Qualifikationen Deutschland ähnlich voranbringen, wie Historiker dies den Vertriebenen attestieren?

Fabritius: Die Flüchtlinge, die ich kennengelernt habe, sind leistungsbereit. Sie schildern es als größtes Problem, nicht arbeiten zu dürfen. Dennoch glaube ich nicht, dass die Flüchtlinge unserem hochqualifizierten Land noch einen Wissenssprung bringen. 

KNA: Erwarten Sie, dass es den Flüchtlingen gelingt, ebenso schnell durch Bildung aufzusteigen wie vielen Vertriebenen, etwa der Literaturnobelpreisträger Günter Grass, der aus Danzig stammt?

Fabritius: Das hoffe ich. Die deutschen Vertriebenen brachten jedoch bessere Voraussetzungen mit als die meisten Flüchtlinge heute. Die meisten müssen unsere Sprache erst lernen, viele sogar die lateinische Schrift. Sie werden Zeit brauchen, um unsere Denkweisen zu verstehen und unsere Werte. Aber schaffen können sie das. Sie sind schließlich Menschen wie wir.

Das Interview führte Jonas Krumbein.


Bernd Fabritius / © Bernd Von Jutrczenka (dpa)
Bernd Fabritius / © Bernd Von Jutrczenka ( dpa )
Quelle:
KNA