Er ist einer der großen deutschen Philosophen des 20. Jahrhunderts. Dabei gehört er nicht zu den Weltverbesserern. Utopische Politikentwürfe und Heilsversprechen sind Hermann Lübbe ebenso verdächtig wie die Vorstellung einer angeblichen "Gesetzmäßigkeit der Geschichte".
Im Zentrum seiner Arbeit steht die Frage, wie die moderne, durch Technik geprägte Gesellschaft in Freiheit und Frieden zukunftsfähig gestaltet werden kann. Am Silvestertag wird Hermann Lübbe, im ostfriesischen Aurich geboren und bis 1991 Professor für Philosophie und Politische Theorie an der Universität Zürich, 90 Jahre alt.
Lübbe zählt zur Ritter-Schule
Zusammen mit Persönlichkeiten wie Ernst-Wolfgang Böckenförde, Robert Spaemann und Odo Marquard zählt Lübbe zur sogenannten Ritter-Schule: ein Kreis von Intellektuellen mit liberalkonservativem Denken, deren geistiger Mentor der Münsteraner Philosoph Joachim Ritter war. Sie haben in der Nachkriegszeit einen wesentlichen Beitrag zur Rehabilitierung der praktischen Philosophie in Deutschland geleistet.
Lübbe hatte am Krieg noch als Marinesoldat teilgenommen und die Gefangenschaft durchlitten. Von großen Ideen hatte er seitdem genug; Skepsis und Pragmatismus wurden zur bestimmenden Geisteshaltung, auch wenn sie dem Zeitgeist bisweilen zuwider liefen. Das zeigte sich etwa, als er 1983, 50 Jahre nach der Machtergreifung Hitlers, öffentlich darüber nachdachte, ob es nach 1945 womöglich auch etwas Gutes hatte, dass in Deutschland eher nicht über die Verbrechen der Nazis gesprochen wurde. Dieses "kommunikative Beschweigen" sei notwendig gewesen, um eine Mitläufergesellschaft zu einer Bürgergesellschaft werden zu lassen.
Gestalter und Grenzgänger
Lübbe, der Philosophie, Theologie und Soziologie studiert hat, ist ein Grenzgänger: Einerseits beschäftigte er sich mit begriffs- und ideengeschichtlichen Themen wie der Säkularisierung und politischen Philosophie. Zugleich zeichnet sich sein Werk durch großen Aktualitäts- und Praxisbezug aus. Er widmete sich Fragen der Technik und der Moral. Noch in den vergangenen Monaten meldete er sich zu Themen wie der Zukunft der EU, dem Umgang mit Wutbürgern, dem Wahlsieg von Donald Trump und der Bedeutung der Religion zu Wort.
Und er gestaltete Politik, insbesondere Hochschulpolitik, aktiv mit, etwa als Professor an den neu gründeten Universitäten Bochum und Bielefeld. Oder von 1966 an als SPD-Staatssekretär im Kultusministerium von Nordrhein-Westfalen und ab 1969 in der Düsseldorfer Staatskanzlei. Das war auch jene Zeit, in der er mit dem späteren langjährigen bayerischen Kultusminister Hans Maier den als konservativ bis reaktionär verschrienen «Bund Freiheit der Wissenschaft» mitgründete, um die Wissenschaftsfreiheit gegen die Rebellion der Studenten zu sichern.
Lübbe: Neue Erkenntnisse, neue Probleme
Schon Anfang der 1970er Jahre zog sich Lübbe aus diesen Ämtern zurück, um sich von seinem Lehrstuhl für Philosophie und Politische Theorie an der Universität Zürich aus in die öffentliche Debatte einzubringen. Als Liberalkonservativer verteidigte er die Moderne und ihre Errungenschaften. Er sieht sie nicht als Kette von Verlusten und Verfall. Zugleich macht er aber deutlich, dass neue Erkenntnisse auch neue Probleme schaffen. Der Mensch fühlt sich in der immer komplizierter werdenden Welt der Arbeitsteilung und Spezialisierung orientierungslos.
Es braucht also Orientierungshilfen: Lübbe sieht Religion, Geschichtsbewusstsein, Gemeinschaftsgefühl und Partizipation als Bollwerke gegen die Versuchungen totalitärer Systeme. In diesem Zusammenhang wendet er sich auch gegen die These vom Absterben der Religion. Sie sei vielmehr ein Modernisierungsgewinner: Sie werde nicht mehr durch die Naturwissenschaften bedroht, weil sie deren Erkenntnisse mittlerweile integriert habe.
Zudem bewirkten gerade die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaften, dass die Menschen sich nach Sinn, Heil und Erlösung sehnten. Schließlich sei es die Religion, die nach Antworten auf die Frage suche, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts.