Der Leipziger Thomaner Chor wird 800 Jahre alt

Tradition verpflichtet

Ihr Alltag bewegt sich zwischen durchstrukturiertem Internatsleben, den Gottesdiensten in der Leipziger Thomaskirche und dem sächsischen Bildungssystem. Rund 100 Jungen im Alter zwischen neun und achtzehn Jahren leben, lernen und singen derzeit bei den Thomanern. In diesem Jahr wird die musikalische Legende und einer der ältesten Knabenchöre der Welt 800 Jahre alt.

Autor/in:
Veronika Schütz
 (DR)

Trotz zahlreicher gesellschaftlicher Umbrüche ist die Hauptaufgabe des Chores seit 800 Jahren die gleiche geblieben: "Das Singen zu Ehren Gottes". In ungebrochener Tradition hat der Chor alle politischen Systeme überdauert. "Weder die Nazis noch die Kommunisten haben es gewagt, die Ausrichtung und das Profil des Chores zu verändern", sagt der Kantor des Thomanerchores, Georg Christoph Biller. Seit der Reformationszeit ist der Chor allerdings in städtischer Hand und befindet sich damit an der "Schnittstelle zwischen Kirche und Staat", so Biller. Heute stehe der Chor vor der Frage, wie er sich mit seinem Profil besser positionieren könne.



So besuchte der Chor etwa die Sendung von Harald Schmidt. Für Biller kommt es darauf an, sich nicht zu verbiegen. "Schlager zu singen oder etwas, das besser anzukommen scheint" kommt für ihn auch in der Fernsehshow nicht in Frage. Also sangen sie Bach. Jede Woche lernen die Thomasse, wie sie sich selbst nennen, eine neue Kantate. Eine Leistung, für die andere Chöre Monate benötigen. Jeden Samstag um 15 Uhr führen sie die einstudierte Kantate in der Thomaskirche auf. Zusätzlich singen die Jungen am Freitagabend und am Sonntag im Gottesdienst.



Große Disziplin

Hinter dem Erfolg der Thomaner steckt eine große Disziplin. Das bedeutet für die Jungen um 6.30 Uhr aufstehen, 6:55 Uhr Frühstück, 7:30 Schulbeginn. Für das Mittagessen um 13:15 Uhr bleibt nicht viel Zeit, denn nachmittags stehen Chorproben, Stimmbildung und Instrumentalunterricht an. Die Hausaufgaben erledigen die Schüler nach dem Abendessen, und um 20:30 Uhr gehen die Jüngsten dann ins Bett, um 22:30 Uhr die Ältesten.



Für individuelle Freizeitgestaltung bleibt da wenig Zeit. Auch die Eltern sind bei der Erziehung ihrer Kinder weitgehend außen vor. Mit Beginn des Gymnasiums ziehen die Jungen für neun Jahre ins Alumnat. Ein einschneidendes Erlebnis für alle Beteiligten und entsprechend schwer fällt der Abschied. "Für mich ist das hier alles neu, gestern musste ich zweimal weinen. Ich hatte großes Heimweh", sagt einer der "Einsteiger" im Dokumentarfilm "Die Thomaner", der anlässlich des Jubiläums gedreht wurde und am Donnerstag in die Kinos kommt. Doch bald weicht das Heimweh dem Stolz und der Freude, ein "echter Thomaner" zu sein.



Nicht zuletzt die "Oberen" helfen den Jüngeren in den ersten Jahren, das Internatsleben zu meistern. Sebastian etwa gibt als "Mentor" Hausaufgabenhilfen, schaut, dass die dunkelblaue Konzertkleidung sitzt, kontrolliert, ob die Frisur stimmt und sorgt für Ordnung auf der "Stube". Aber auch Strafen verteilt er, wenn es sein muss: Noten sortieren oder Flügel putzen -Dinge, die dem Chor zugutekommen sollen. Es gilt das Prinzip der gegenseitigen Erziehung.



Privatleben ist kaum möglich

Es mutet fast wie eine eigene Welt an, in der die Thomaner leben, und in deren Mittelpunkt Johann Sebastian Bach steht. In dieser Welt kümmert sich der "Kantorfamulus" um die organisatorischen Belange wie Noten und CDs, der "Domestikus" ist für die Ordnung im Haus verantwortlich, und der "Sammelultimus" trägt dafür Sorge, dass jeder Thomaner alle seine Noten in der Mappe hat. Doch trotz dieser klingenden Namen ist die Realität im Internat oft auch nüchtern. Schlafzimmer mit Etagenbetten, weiße Wände, schlichte Möbel. Zu elft wohnen die Jungen in einer "Stube" - Privatleben ist hier kaum möglich.



Die neun Jahre zwischen Erfolg und Leistungsdruck, Zweifel und Stolz, Heimweh und Freundschaft prägen die Jungen für ihr Leben. Diese Zeit "hat mich zu dem gemacht, was ich jetzt bin", fasst Stefan zusammen. Danach komme es darauf an, die Erfahrungen und das Wissen so einzusetzen, dass man "wirklich vollständig wird".