Experte will mehr Kreativität beim Kirchengesang in Corona-Zeit

"In der Kirche scheut man notorisch Investitionen"

In der Debatte über das Singen in Kirchen in Zeiten von Corona spricht sich ein Musikwissenschaftler für mehr Kreativität und weniger Polarisierung aus. Gemeinschaft im Beten oder Singen sei keineswegs von der physischen Nähe abhängig. 

Gesangbücher eines Kirchenchores / © Elisabeth Rahe (KNA)
Gesangbücher eines Kirchenchores / © Elisabeth Rahe ( KNA )

"Der Diskurs in der Kirche hat sich ähnlich entwickelt wie der um Schulen und Kitas. Beide haben sich in der Dichotomie 'öffnen' versus 'geschlossen halten' festgefressen", schreibt Rainer Bayreuther von der Hochschule für evangelische Kirchenmusik Bayreuth in einem Gastbeitrag für die "Zeit"-Beilage "Christ & Welt" (Donnerstag). "Nirgends ist Fantasie im Spiel, nach dritten Wegen zu suchen."

Bayreuther empfiehlt den Blick in die Geschichte des Christentums und auf andere Religionen. "Die Art, wie heute etwa in den evangelischen Kirchen gesungen wird, erweist sich dann als eine von vielen; keine davon sollten wir für sakrosankt halten." Auch halte er eine Besinnung darauf für geboten, wie das Singen und die Gemeinschaft "systematisch" zusammenhängen. "Erst wenn zum Grundsätzlichen zurückgegangen wird, eröffnen sich auch neue Perspektiven."

Auf mediale Mechanismen zurückgreifen 

Singen stifte Gemeinschaft - was das konkret sein könne, müsse nun durchdacht werden: "Wer und wie viele verlautbaren was wo und wie, damit ein präsentisches kollektives Bewusstsein entsteht? Welche dezentralen und pandemieverträglichen Konstellationen sind denkbar?" Die Gemeinschaft im kollektiven Beten oder Singen sei keineswegs von der physischen Nähe abhängig, wie sie vom Singen im Chor oder in den Kirchenbänken bekannt sei, erklärt Bayreuther. "Alle modernen Erfahrungen von Gemeinschaft, in denen ein elektronisches Medium zwischengeschaltet ist, belegen diese These."

Offenbar gebe es "mediale Mechanismen, die genau das bewirken, was das Singen im physischen Chorkörper herstellt: dass sich Menschen so aufeinander einstimmen, dass der eine sich nicht nur fühlt und bewegt wie der andere, sondern beide das auch voneinander wissen und ein Bewusstsein von Gemeinschaft entwickeln", so der Wissenschaftler. "Auditive Medien sind also generell das zu leisten imstande, was das Singen leistet, ohne dass in ihnen im engeren Sinn gesungen würde."

Keine Ängste oder Vorbehalte gegenüber Technik

Bayreuther beklagt Ängste und Vorbehalte aufseiten der Kirche. "In der Kirche scheut man notorisch Investitionen in Medientechnik und verbrämt das mit theologischen Argumenten." Religionsgemeinschaften seien aber "gut beraten, klanglich und medientechnisch im 21. Jahrhundert anzukommen und zugleich ins Grundsätzliche zu gehen".


Quelle:
KNA
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