Ein Licht anzünden geht immer

Der Frühling wartet schon

Orange Tulpen, gelbe und weiße Rosen. Schon seit einer Woche schenkt uns der Strauß auf unserem Esstisch seine Frühlingszuversicht. Die Sonne scheint auf ihn und meine Zeitungslektüre. Alles ist gut. Dann blättere ich die Zeitung auf.

der Frühling wartet  / © von Andreas Werle (Eigenes Werk) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via
der Frühling wartet / © von Andreas Werle (Eigenes Werk) [CC BY-SA 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0)], via

Und freue mich über die Verlegung von dreizehn neuen Stolpersteinen in dem kleinen Dorf, in dem ich wohne. Dreizehn neue!  Für die deportierten Juden aus dem Dorf liegen die Steine schon. Aber ein paar Jugendliche wollten wirklich verstehen, was damals geschah. Als niemand mehr seines Lebens sicher war, der anders oder auch nur anderer Meinung war. Deswegen forschten sie weiter. Legten neue Steine. Für einen Mann der, wie es damals hieß, „geisteskrank“ war, für einen Kaplan, der unliebsam von der Kanzel predigte. Für einen, der als Kommunist anders dachte, als die Herrschenden erlaubten. Nein, damals war niemand vor niemandem im Dorf sicher. Irgendwer muss den „Kanzelmissbrauch“ und alles andere ja denunziert haben. So fängt es an. Und scheinbar hört es nie auf.

Weiter vorne in der gleichen Zeitung lese ich, dass der charismatische, hochbegabte, in Physik promovierte, russische Regimekritiker Nemzow ermordet wurde. Als sogenannter "Nationalverräter" war er, der einst Jelzins Nachfolger werden sollte, schon lange auf den schwarzen Listen der russischen Medien. So lange, dass die junge Generation in Russland Nemzow kaum noch kannte. Und hat nicht gerade erst Laura Poitras den Oscar für ihren Dokumentarfilm über Edward Snowden bekommen? Der Film brachte ihr Morddrohungen, sie braucht Personenschutz. Echte Meinungsfreiheit ist anscheinend sehr selten geworden.

Als ich von der Zeitung hochschaue, sehe ich den Frühlingsstrauß. Und die Kerze daneben. Unsere Familienosterkerze. Auf die jeder von uns jedes Jahr sein Herz mit Ängsten und Wünschen malt. Und die dann ein ganzes Jahr brennt.

Ich zünde unsere Kerze an. Für Boris Nemzow. Und alle anderen Menschen damals und heute und morgen, die sich auch bei Gefahr für Leib und Leben nicht einschüchtern lassen. Ich denke an Franz von Assisi. Der gesagt hat: "Gegen die Nacht können wir nicht ankämpfen. Aber wir können ein Licht anzünden." Weiter Zeitung lesen, weiter das Herz aufmachen für all das Finstere, das wir Menschen immer neu verursachen. Nicht schweigen. Und nicht bitter werden. Wir können ein Licht anzünden. Immer. Die finsterste Nacht kann hell werden. Immer.

Der Frühling draußen wartet schon.