Der Bonner Sozialethiker Elmar Nass verteidigt Sozialenzyklika

"Eigenes Profil statt Mainstream"

Die Anfang Juli veröffentlichte Sozialenzyklika von Papst Benedikt XVI. "Caritas in veritate" (Die Liebe in der Wahrheit) ist auf ein geteiltes Echo gestoßen. Der an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn lehrende Sozialethiker Elmar Nass verteidigt nun das Lehrschreiben gegen Kritik.

Papst Benedikt XVI. unterzeichnet seine dritte Enzyklika "Caritas in veritate" (KNA)
Papst Benedikt XVI. unterzeichnet seine dritte Enzyklika "Caritas in veritate" / ( KNA )

KNA: Herr Dr. Nass, die Sozialenzyklika von Benedikt XVI. kommt bei vielen Ihrer sozialethischen Fachkollegen nicht gerade gut weg. Warum?
Nass: Das wundert mich nicht. Denn es gibt ja nicht mehr «die eine katholische Sozialethik». Vielmehr wollen die Fachvertreter an die modernen Sozialwissenschaften anknüpfen und lassen sich entsprechend von deren unterschiedlichen Ansätzen leiten. Und das Urteil über die Enzyklika hängt dann natürlich von der jeweils eigenen Sichtweise ab. So tendiert der eine mehr zum ökonomisch-liberalen und der andere mehr zum kollektivistischen Denken.

KNA: Eine Hauptkritik ist, dass der Papst das sogenannte Naturrechtsdenken wieder aufwertet...
Nass: Gerade darin sehe ich aber die Stärke der Enzyklika. Sicher: Der Begriff Naturrecht ist vorbelastet. Da gehen bei vielen meiner Kollegen, die in den Kategorien der modernen Wissenschaften denken, sofort die Türen zu. Denn mit dem Naturrecht wurde in früheren Zeiten alles Mögliche als gottgegebene objektive Ordnung dargestellt - etwa dass der Platz der Frauen am Herd ist. Doch diesen ewig gestrigen dogmatisierenden Naturrechtsbegriff vertritt der Papst gar nicht.

KNA: Sondern?
Nass: Schon in den 60er Jahren hat der Theologe Joseph Ratzinger vor einer einseitigen Überbetonung des Naturrechts gewarnt und die Notwendigkeit anderer Erkenntnisquellen wie die Heilige Schrift betont.

KNA: Diesen moderateren Ansatz scheinen die Kritiker der Sozialenzyklika aber nicht zu sehen. Wo liegt denn der Unterschied zwischen ihnen und dem Papst?
Nass: Um den Anschluss an die nicht-theologischen Wissenschaften nicht zu verlieren, stützen sich viele Sozialethiker auf deren wissenschaftlich abgesicherte Erkenntnisse und Sprachspiele. Darin sehe ich ein Problem. Denn dann könnten auch Ökonomen und Soziologen die katholische Position definieren. Die katholische Sozialethik steht in der Gefahr, die eigene Identität zu verlieren. Dabei suchen die Menschen in der Postmoderne doch auch nach dem, was die Kirche aus ihrer spezifischen Glaubensperspektive heraus im Unterschied zum Mainstream zu sagen hat. Wir sollten als katholische Kirche unsere Position mit erkennbar eigenem Profil vorstellen - und darüber dann mit den anderen in den Dialog treten.

KNA: Benedikt XVI. wird vorgehalten, kein Konzept gegen aktuelle Probleme wie die Wirtschaftskrise vorzulegen. Warum hält er sich da zurück?
Nass: Dem Papst geht es nicht in erster Linie darum, sich an den verschiedenen Feldern der Politik abzuarbeiten und hier Position zu beziehen. Die katholische Soziallehre hat schon immer eher Grundsätze formuliert und konkrete Lösungen den Politikern vorbehalten. Auch mit seiner Enzyklika hat Benedikt XVI. Grundlegendes im Blick. Die Problemlagen in der Welt sieht er in einem Gesamtkontext. Er warnt insbesondere vor einem falschen Geist, der Technik und Markt blind vertraut und zu Göttern erhebt. Das ist für ihn schlimmer als die aktuelle Wirtschaftskrise. Dagegen setzt er - wie es programmatisch im Titel zum Ausdruck kommt - auf den Geist der Liebe. Das ist im Vergleich zu anderen Positionen neu: Um die Probleme in der Welt zu lösen, reicht es aus Sicht des Papstes nicht aus, sich allein auf die Erkenntnis der Vernunft zu verlassen.
Hinzukommen muss eben eine Grundhaltung der Liebe.

KNA: Dennoch macht der Papst auch konkrete Vorschläge. So fordert er eine politische Weltautorität. Wie realistisch ist eine Umsetzung?
Nass: Natürlich gibt der Papst damit ein hohes Ziel vor, eine Vision. Aber was ist die Alternative? Eine Weltgesellschaft kann doch nicht als anonyme Zweckgemeinschaft funktionieren, die sich auf bloß formale Gesetze und Regeln stützt. Beispiel Menschenrechte.

Hier haben wir ja schon formal die humanistische Synthese, die dem Papst vorschwebt. Aber zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft doch eine riesige Lücke. In diese Wunde legt der Papst den Finger.

Benedikt XVI. will mehr: Eine Autorität, die ernst macht mit der Durchsetzung der Menschenrechte. Voraussetzung dafür ist aber ein Bewusstsein als Menschheitsfamilie. Der Papst ermutigt zu den notwendigen Schritten darauf zu.

KNA: Wie soll das denn gehen angesichts der völlig unterschiedlichen Menschenbilder und Feindschaften?
Nass: Da liegt natürlich ein weiter Weg des Dialogs vor uns. Hierbei gilt es, neben den politischen Kräften vor allem auch die Weltreligionen mit ins Boot zu holen. Im Islam zum Beispiel gibt es neben islamistischen Scharfmachern auch Strömungen, mit denen man zu einer humanistischen Synthese kommen könnte.

KNA: Einige Sozialethiker stören sich auch daran, dass der Papst die moralische Verantwortung des Einzelnen hervorhebt, statt auf gerechte Strukturen zu drängen. Wie sehen Sie das?
Nass: Dem Papst geht es doch um beides. Aber Regeln allein reichen für ein gutes Zusammenleben nicht aus. Wo wird es enden, wenn Menschen ohne Einsicht nur blind funktionieren? Was nützt es zum Beispiel, wenn einer nur Dienst nach Vorschrift macht? Hinzukommen muss die persönliche Verantwortung. Und deren Bedeutung betont der Papst. In diesem Spezifikum der Enzyklika sehe ich gerade eine Stärke und keine Schwäche.

Das Interview führte Andreas Otto.