Der Adler wird den Weg weisen

Sehnsucht nach Freisein

"Lass mich das machen, ich will die Kolumne schreiben." Der Große hat keine Lust seine Lateinvokabeln zu lernen und nervt, während ich versuche, diesen Text zustande zu bringen.

Sehnsucht nach Freisein / © Judhi Prasetyo
Sehnsucht nach Freisein / © Judhi Prasetyo

Es ist Montagnachmittag und wir sitzen auf der Terrasse der Musikschule, während die Große in ihrem  Orchester ist. Ich reiche ihm den Laptop über den Bistrotisch. "Wie, jetzt? Ich kann doch nicht einfach anfangen." "Ja wie denn sonst,mein Sohn?" frage ich mich leise, "wenn ich nicht einfach anfange, steht hier morgen früh immer noch nichts …!"

Der Große zuckt mit den Schultern, verlässt den Tisch, setzt sich auf einen Brückenpfeiler am Ende des schmiedeeisernen Geländers und stöpselt sich die Ohren zu. Während ich ihn da sitzen sehe, kann ich seine Sehnsucht nach Freisein, danach, endlich über sich selbst bestimmen zu können, geradezu körperlich fühlen.

Vor kurzem haben wir sein Zimmer neu gestaltet. Die Wände sind jetzt ozeanblau in allen Schattierungen, abgesetzt mit Neongrün. Und über dem Schreibtisch fliegt ein Seeadler. Gemalt von der Ganzgroßen, die ganz großes künstlerisches Talent hat. Der Adler sitzt auf einer kleinen Wurzel. Aber da ist er maximal zwischengelandet. Ready vor take off, würde ich sagen. So wie der Große.

Der schon lange nicht mehr auf seinem Brückenpfeiler sitzt, sondern im Park unterwegs ist. Unter uralten, vielen Meter hohen Bäumen sehe ich ihn stehen. Durch die Herbstblätter verliert sich sein Blick im heute mal blauen Himmel. Kommt zurück und sagt: "wollte nur schauen, ob ich den Stamm hochlaufen kann." Das glaube ich sofort – auf in den Himmel und sich dort mit Adlersschwingen in die Freiheit stürzen. Ich weiß mein Kind, Du scharrst mit den Füßen, willst Dein eigenes Leben. Das wird kommen, sei gewiss. Dein Adler wird Dir den Weg weisen. Bis dahin, hab Geduld mit uns. Wir sind auch nur Eltern.

Heute ist Sonntag: freie Zeit für freie Kinder. Vorher will ich wissen, ob der Große den Text freigibt, wie er ihn findet? „Textisch“ sagt er und schaut mich schelmisch an. Das heißt dann wohl: bin einverstanden. Am Sonntag schenkt er uns freie Zeit. Ich freue mich. Ich weiß ja, dass er nur noch ein paar Jahre bei uns ist, bevor er seine Flügel ausbreiten wird. Up and away. Ich wünsch Dir jetzt schon mal einen guten Flug!