Demonstratives Wurstessen gegen Fastengebote

Vor 500 Jahren

Reformierte Christen haben keine Heiligen und Legenden. Dass ihnen damit komplett das Bunte abginge, ist wiederum auch nur eine Legende. Am Anfang der Reformation in Zürich etwa steht eine kalorienträchtige Anekdote.

Autor/in:
Alexander Brüggemann
Würste liegen auf einem Brett / © Sunny Forest (shutterstock)
Würste liegen auf einem Brett / © Sunny Forest ( shutterstock )

Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei - so hieß 1986 ein karnevalskompatibler Schlager von Stephan Remmler, Ex-Sänger von Trio. Tatsächlich soll hier von mehreren Würsten und von einem Ende die Rede sein: dem Ende der westlichen Kircheneinheit vor 500 Jahren. Am 9. März 1522, dem ersten Fastensonntag, war das Haus des Druckers Christoph Froschauer Ort einer denkwürdigen religiösen Provokation; der Startschuss der Reformation in Zürich.

Gegen das Fleischverbot verstoßen

Rund ein Dutzend Mitglieder der städtischen Oberschicht, darunter auch mehrere Geistliche, versammelten sich dort, um demonstrativ gegen das geltende Fleischverbot während der Fastenzeit zu verstoßen. Verzehrt wurden zunächst - korrekt - Zürcher sogenannte Fasnachts-Chüechli, ein Hefegebäck ohne Ei. Doch danach gab es - schließlich steht in der Bibel nichts von Wurst! - dünne Scheiben von zwei gut abgelagerten, scharfen Rauchwürsten. Auch der Reformator Huldrych Zwingli (1484-1531), Leutpriester und strenger Prediger am Großmünster, war anwesend; allerdings nahm er am Wurstessen selbst nicht teil. Als einziger, wie manche Darstellungen berichten.

Umgehende Untersuchung

Als der Rat der Stadt (wie offenbar beabsichtigt) von der Aktion erfuhr, ordnete er umgehend eine Untersuchung an. Denn die Verstöße gegen das Fastengebot schienen ja regelrecht um sich zu greifen: Am Aschermittwoch, wenige Tage zuvor, hatte der Bäcker Heini Aberli im Wirtshaus einen Braten verzehrt - was als Ordnungswidrigkeit in den städtischen Akten verzeichnet ist.

In seiner Verteidigungsschrift vom 21. März erklärte der Drucker Froschauer also, es gebe zurzeit mächtig viel Arbeit. Erasmus von Rotterdam habe zur Frankfurter Messe eine dringende Buchlieferung bestellt, und seine Leute würden von "Mus" (Brei) allein nicht satt. Schließlich könne er nicht ständig Fisch kaufen.

Fastenzeit

Die 40-tägige christliche Fastenzeit beginnt Aschermittwoch und endet am Gründonnerstag vor Ostern. Seit dem 5. Jahrhundert rückte während der Vorbereitung auf Ostern das Fasten in den Mittelpunkt. Da an Sonntagen nicht gefastet werden sollte und sie deshalb nicht als Fastentage gezählt werden, wurde der Beginn der Fastenzeit offenbar im sechsten oder siebten Jahrhundert vom sechsten Sonntag vor Ostern auf den vorhergehenden Mittwoch, den Aschermittwoch, vorverlegt.

Fastenzeit / © Tomasetti (DR)
Fastenzeit / © Tomasetti ( DR )

Aus Provokation wird öffentlicher Disput

Und Froschauer blieb damit nicht allein im Regen stehen. Zwingli predigte im Münster über das Fasten - und der Drucker unter Druck stand nicht an, Zwinglis Text umgehend zu veröffentlichen. Spätestens diese Schrift, "Vom Erkiesen [d. h. Auswahl] und Fryheit der Spysen", machte aus der Provokation einen öffentlichen Disput. Es kam zu Schlägereien zwischen Fastenden und Fastenbrechern. Das Thema war nun "gesetzt". In Basel gab es kurz darauf, am Palmsonntag, ein opulentes Spanferkel-Essen.

Zwingli argumentierte, dass es sogar nach katholischer Lehre Ausnahmen gebe. Bei harter Arbeit dürften Fastenvorschriften gelockert werden. Aber hatten Froschauers Drucker denn tatsächlich nur Schmacht nach Deftigem? Nein, es ging natürlich um mehr: um eine symbolische Kontrafaktur der Abendmahlsfeier; um eine Demonstration evangelischer Freiheit. "Willst du fasten, tue es; willst du lieber kein Fleisch essen, dann iss es nicht." Privatsache!

Keine Offenbarung, sondern Tradition

Was nicht biblisch ist, ist nicht Offenbarung, sondern bloße Tradition. Sich über die Festlegungen von Bischöfen hinwegzusetzen, war nach protestantischer Auffassung nicht Sünde, sondern vielmehr legitim, ja ein Adelsprädikat für einen freien Christenmenschen; erst recht im Kontext des damals nachwirkenden Schweizer Konflikts mit Papst Leo X. und den ihm verbündeten Habsburgern.

Der Rat der Stadt Zürich befreite sich aus seiner misslichen Lage mit einer Flucht nach vorne: Nach einer öffentlichen Disputation mit Zwingli im Januar 1523 - vor mehr als 200 Ratsherren, 400 Geistlichen und einer Delegation des Bischofs von Konstanz - machte sich der Rat die Argumentation des beharrlichen Theologen zu eigen und hob, unter Umgehung aller hergebrachten bischöflichen Instanzen, die bisherigen kirchlichen Fastengebote auf. Fortan sollte nur noch gelten, was die Bibel dazu erlaube oder verbiete.

Alles Traditionelle unter Legitimationszwang

Mit dieser Kehrtwende stand nun nicht mehr die unbotmäßige Neuerung, sondern alles Traditionelle unter Legitimationszwang. Bis Anfang 1525 folgten, durch Ratsbeschlüsse legitimiert, die Abschaffung von Heiligenverehrung, eine geordnete Beseitigung kultischer Bilder sowie zu Ostern 1525 eine Neuordnung des Gottesdienstes mit reformierter Abendmahlsfeier.

Die Klöster wurden aufgehoben; die Kirchengüter gelangten unter die Ägide des Rates und wurden vornehmlich dem Schulwesen zugeführt - während sich Teile der Züricher Intelligenzija zu Zwinglis Entsetzen zunehmend reformatorisch radikalisierten. 1526 wurden vier von ihnen auf gerichtliche Anordnung feierlich im Limmat ertränkt. "In ganz Europa", so kommentiert der anglikanische Kirchenhistoriker Diarmaid MacCulloch, "begann die Reformation sich jetzt von einem Karneval des Volkes in etwas Strukturierteres, (...), aber auch Freudloseres zu verwandeln."

"Alles begann mit einer Wurst"

All das begann in Zürich mit einer Wurst; nein, mit zwei gut abgelagerten, scharfen Rauchwürsten. Für die Reformation in der Schweiz und für die reformierte Kirche hat das Wurstessen einen ähnlich hohen Stellenwert wie der Wittenberger Thesenanschlag Martin Luthers für die Reformation in Deutschland und für die evangelisch-lutherischen Kirchen. Und für die Kircheneinheit war es: das Ende.

Quelle:
KNA