Das Ringen um neue Gemeindestrukturen am Beispiel Bistum Aachen

Katholiken auf die Couch gelegt

Seit Jahren haben die 27 römisch-katholischen Bistümer in Deutschland mit sinkenden Mitgliederzahlen und Steuereinnahmen zu kämpfen. Und alle haben den Kampf aufgenommen - mit unterschiedlichen Reform- oder Neuorientierungs-Prozessen. Unter Überschriften wie "Zukunft heute" oder "Sparprozess als pastorale Chance" versuchen die Bistümer, ihre Gemeinden auf neuen Kurs zu bringen. Für viele Katholiken ein schmerzhafter Prozess, wie eine Infoveranstaltung in dieser Woche in Aachen deutlich machte.

Autor/in:
Viola van Melis
 (DR)

Damit hatten die rund 400 Katholiken im Saal nicht gerechnet: Dass eine eigens aus Erfurt geladene Pastoraltheologin fast die ganze Diözese Aachen auf die Couch legen würde. Von Trauerarbeit spricht Maria Widl, von Wut und Schuldzuweisungen vieler Ehrenamtlicher angesichts der Kürzungen und Gemeindefusionen im Bistum. Psychologisch betrachtet sei es leichter, dem Bischof die Schuld an schmerzhaften Veränderungen zu geben, als sich mutig Veränderungen zu stellen. Die Kirche sei keine Volkskirche mehr und müsse Einschnitte vornehmen. Das schmerze, dürfe aber nicht dem Bischof vorgeworfen werden. "Vogel-Strauß-Politik" nennt Widl diese Taktik - und das Murren im Saal ist nicht zu überhören.

Die Infoveranstaltung des Diözesanrats der Katholiken am Mittwochabend im Gemeindesaal von Sankt Fronleichnam in Aachen steht unter dem vielsagenden Titel "Zwischen Chaos und Neuorientierung: Was wird aus der Kirche am Ort?". Das Laiengremium wollte mit dieser Einladung an Kirchenvorstände und Pfarrgemeinderäte eine Debatte versachlichen, die das kleine Bistum im Westen Deutschlands seit Monaten umtreibt. Neue Gemeindestrukturen stehen auf der Agenda. Und was der Bischof im Frühjahr vorgegeben hat, lehnen einige ehrenamtlich Aktive erbittert ab.

125 der insgesamt 537 Pfarreien sollen zu 45 neuen Gemeinden zusammengelegt werden. Zuvor hatten die Gemeinden des Bistums, in dem Mitbestimmung so groß geschrieben wird wie in kaum einer anderen Diözese, selbst über ihre Autonomie entscheiden dürfen. Doch weil manche Gemeinden sich über Jahre zu keinem Entschluss durchringen konnten, verkündete der Bischof, selbst zu entscheiden. Laut Kirchenrecht ist das, nach Befragung der Räte im Bistum, genau seine Aufgabe.

Diözesanrat: "Gefühllos und oft unsensibel" informiert worden
Doch der Diözesanrat hält seit Monaten unverändert an seiner Kritik
fest: Die betroffenen Gemeinden seien "gefühllos und oft unsensibel" über die Pläne informiert worden, wettert denn auch der langjährige Diözesanratsvorsitzende Georg Mauer an diesem Abend und trifft den Nerv der meisten im Saal. Lang anhaltender Applaus, als er Mussinghoff aufruft, das Fusionsprojekt grundlegend zu überarbeiten.  Die Pfarreien sollten mehr Einfluss bekommen, verlangt Mauer. Konkrete konstruktive Anstöße sind an dem Abend, mit dem das diözesane Laienkomitee die Debatte hatte "versachlichen" wollen, dagegen kaum zu hören. Das unbequeme Wort von der "Vogel-Strauß-Politik" scheint wie verflogen.

So beherrschen Schuldzuweisungen die Diskussion, dominieren auch in Zwischenrufen während der Vorträge. Die Aachener Sozialwissenschaftlerin Barbara Krause bemüht sich um Vermittlung.  Sie spricht vom "Communio-Gedanken" des Zweiten Vatikanischen Konzils, der mehr Kommunikation im Bistum und mehr Entscheidungen im Konsens verlange. Sonst bestehe die Gefahr, dass sich aktive Gemeindemitglieder zunehmend distanzierten.

"Wir sollten der anderen Gemeinde auf Augenhöhe begegnen"
Ermüdungserscheinungen unter Ehrenamtlichen sind tatsächlich in Gemeinden zu registrieren, denn das Bistum hat schon einen langen Weg hinter sich. Am Anfang standen weitreichende Sparmaßnahmen, die Entlassungen von Mitarbeitern und die Abschaffung der mittleren Organsationsebene nach sich zogen. Es folgte die Neuordnung der Verwaltungsarbeit, die ebenfalls manche Pfarrei störte, vor allem weil sie Immobilien- und Finanzfragen aus den Händen geben sollte.
Ausgesprochen wurde dies jedoch nur hinter vorgehaltener Hand.

Und so spricht auch in der Fusionsdebatte fast niemand offen aus, was einige bislang autonome Pfarreien tatsächlich ärgert: dass ihr Vermögen in die fusionierte Gemeinde übergehen und gegebenenfalls mit ärmeren Gemeinden - gut christlich - geteilt werden soll. Nur mit größter Vorsicht nimmt auch der für die Fusionen zuständige Hauptabteilungsleiter im Generalvikariat, Rolf-Peter Cremer, im Gemeindesaal dieses Thema in den Mund: "Wir sollten der anderen Gemeinde auf Augenhöhe begegnen", appelliert er. "Augenhöhe geht vor Verteilungskampf." Im Saal erntet Cremer nur Missmut. Die Pastoraltheologin, als Expertin von außen geladen, weiß sich als Gast zu benehmen und nimmt in der Schlussdebatte nicht noch einmal das Wort von der "Vogel-Strauß-Politik" in den Mund.