Das Naturparadies alter Münchner Südfriedhof

Leben zwischen Grabsteinen

„Friedhöfe sind ein großer Schatz der Kirchen“, sagte im Interview mit domradio.de Reiner Sörries, der Direktor des Museums für Sepulkralkultur – Begräbniskultur – in Kassel. Zu Allerheiligen und Allerseelen gedenken hier Katholiken ihrer Verstorbenen. Auch auf dem Münchner Südfriedhof – einer Totenstätte mit Geschichte und einem Naturparadies.

Autor/in:
Christian Wölfel
 (DR)

"Michi" heißt er. Zumindest kennt ihn die Münchner Friedhofsverwaltung unter diesem Namen. Sein Zuhause ist bei Louise, der verblichenen Freifrau von Wendland. Der Obdachlose hat sich auf dem Alten Münchner Südfriedhof wohnlich niedergelassen, ein Idyll mit vielen Prominentengräbern und unberührter Natur in der Isarvorstadt, zwischen Stephansplatz und Kapuzinerstraße. Michi soll sich hier auskennen, er sei der ideale Friedhofsführer, sagt man.



Doch wo liegt Louise? Graue Blechtafeln am Eingang bieten Orientierung: Eine Friedhofsskizze voller Zahlen, daneben eine Namensliste, alphabetisch sortiert. Es sind diejenigen, die der Verwaltung als berühmt genug gelten, so dass ihre letzte Ruhestätte zur Attraktion für Besucher wird. Die Freifrau ist nicht dabei. Eichhörnchen huschen zwischen den alten Bäumen und den opulenten Grabmälern hin und her, das Laub raschelt, der Lärm der Metropole ist hinter den hohen Backsteinmauern kaum zu hören.



Der Maler Carl Spitzweg ist Nummer 7, von der Stephanskirche kommend auf der linken Seite des Hauptweges. Sein in Stein gehauenes Gesicht ist unverkennbar - ein beliebtes Fotomotiv für Touristen. Der Historiker Joseph Görres hat Nummer 27, der Baumeister Leo von Klenze Nummer 44, der Japanforscher Philipp Franz von Siebold die Nummer 45. Senfkönig Johann Conrad Develey liegt hier begraben, ebenso Franz Xaver Gabelsberger, der Erfinder der Kurzschrift.



Die älteste Grünfläche der Stadt

1563 als Pestfriedhof angelegt, war das Areal von 1788 bis 1868 die einzige Begräbnisstätte im Münchner Stadtgebiet. Seit 1898 wurde es langsam aufgelassen, der Bestattungsbetrieb endete nach 1945 endgültig. Der Boden war schlichtweg übersättigt, der Zweite Weltkrieg hatte außerdem schwere Schäden hinterlassen. Es dauerte Jahre, bis aus dem Trümmerfeld wieder ein Friedhof wurde, auf dem auch die Natur zu ihrem Recht kam. Schließlich ist er mit etwa 450 Jahren die älteste Grünfläche der Stadt, Rückzugsraum für vom Aussterben bedrohte Tier- und Pflanzenarten und eine Oase der Ruhe für Flaneure aller Art.



Tagsüber gewähren die Eingänge Joggern ebenso Durchlass wie jungen Müttern mit Kinderwagen. Auf den Bänken sitzen Menschen in Anzug und Kostüm, während der Mittagspause bei der Zeitungslektüre. Über die Wege des Friedhofs schlurft ein alter Mann - zu alt, um Michi zu sein.



Es ist ein Anwohner aus der Nachbarschaft. Auch er entpuppt sich als Experte. Das Grab von Joseph von Fraunhofer, Optiker und Vater des wissenschaftlichen Fernrohrbaus, kann er geduldigen Besuchern zeigen: Ein Teleskop ist dort zu sehen. Fraunhofer (1787 bis 1826) werkelte in Kloster Benediktbeuern. Mit seinen Linsen und Geräten begründete der gelernte Glaser die Spektralanalyse, bis heute Grundlage der Weltraumforschung.



"Den gibt es nicht mehr"

Der Nachbar erzählt von den vielen Kränzen, die es erst jüngst zu einem Jubiläum auf dem Grab gegeben habe. Doch wo Michi ist, weiß auch er nicht. Zwei Friedhofsgärtner können weiterhelfen. Sie bereiten gerade den Blumenschmuck für Allerheiligen vor.



"Den gibt es nicht mehr", erzählen sie. Gestorben sei er, vor ein, zwei Jahren - direkt vor ihren Augen. Gestürzt auf dem Friedhof, mit der Schläfe gegen einen Steinpfosten geprallt. Er sei sofort tot gewesen. Sie hätten das gleich erkannt, schließlich arbeite man ja in der Bestattung. Nach erfolgloser Wiederbelebung hätten Kollegen die Leiche des gebürtigen Krefelders abgeholt.



Wo Michi seine letzte Ruhe gefunden hat, davon haben sie keine Ahnung. Auf dem alten Südfriedhof jedenfalls nicht. In der Ferne rauschen die Autos über die vierspurige Kapuzinerstraße, der Anwohner hat sich auf einer Bank niedergelassen. Die letzten Sonnenstrahlen dringen durch die schütteren Zweige, ein Fotoapparat klickt: Jede Menge Leben auf dem Alten Münchner Südfriedhof.