Schriftstellerin über "Die Philosophie des Singens"

"Das Chorsingen hat viele verbindende Elemente"

Für viele Menschen gehört das Singen im Leben dazu. In "Die Philosophie des Singens" geht Bettina Hesse auf das verbindende Element des Singens ein und beantwortet die Frage, welche Rolle liturgische Gesänge und der Kirchenraum dabei spielen. 

Junge Chorsänger / © Ja Crispy (shutterstock)

DOMRADIO: Fangen bei Ihnen persönlich an - Wie haben Sie das Singen für sich entdeckt?

Dr. Bettina Hesse (Autorin und Dozentin): Das ging sehr früh los. In unserer Familie wurde viel gesungen, auch beim Wandern oder beim Gehen. Es gibt zwei Ebenen, die mich beeindruckt haben: Das war einmal das Singen in der Messe, in der Kirche. Das hat mir immer sehr viel Spaß gemacht, und ich bin immer erstaunt, wie lange diese Texte noch vorhalten - bis ins hohe Alter hinein. Das andere war bei den Pfadfindern. Da wurde auch viel gesungen, etwa abends am Lagerfeuer. Das ist etwas, was bei mir auch sehr haften geblieben ist, weil das auch schon dieses verbindende Element hatte.

DOMRADIO: Was ist besonders daran, in einem Chor zu singen?

Hesse: Das Chorsingen hat ganz viele verbindende Elemente. Wenn ich eine Chorstimme bin, muss ich mich mit den anderen verbinden. Ich muss hören, was sie singen, und versuchen, einerseits bei meiner Stimme zu bleiben und andererseits wahrzunehmen, was die anderen singen. Und daraus ergibt sich nicht nur der Klang, sondern auch der Zusammenklang. Diese Form von Durchlässigkeit ist etwas, was dem Singen sehr eigen ist. Was es im Verhältnis zu uns selber setzt, aber eben auch zu den anderen. Diese Verbindung hat etwas enorm Befriedigendes.

DOMRADIO: In den letzten Jahren ist es ja "in" geworden, zusammen zu singen, etwa in Kneipen. Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einem Chorauftritt und dem gemeinsamen Singen in der Kneipe?

Hesse: Ich würde sagen, es ist ein großer Unterschied. In Kneipen geht es weniger um das musikalische Können. Es geht es um den Spaß am gemeinsamen Singen. Da wird in der Regel jeder und jede akzeptiert, egal auf welchem Niveau gesungen wird. Aber es geht um dieses Gemeinsame und auch die Freude daran. Im Chor geht es meist auch um den musikalischen Aspekt, und der setzt andere Dinge in Gang. Da geht es eben auch um das gemeinsame Projekt, also das Ergebnis - das Lied oder das Oratorium oder was auch immer. Je nachdem, in welcher Stilistik oder in welchem Zusammenhang ich singe.

DOMRADIO: Viele Chöre sind Kirchenchöre. Aber auch andere Chöre treten in Kirchen auf. Welche Rolle spielt der Kirchenraum?

Hesse: Ich würde sagen, für jeden Chor spielt der Raum eine große Rolle. Aber der Kirchenraum hat natürlich eine ganz besondere Akustik. Das Kontemplative, das ein Kirchenraum mit sich bringt, fördert die Konzentration und das Zuhören. In der Regel ist natürlich der Kirchenraum einer, in dem die Akustik besser für den Gesang ist. Nicht immer, manchmal ist er auch sehr hallig. Aber ich glaube, er erlaubt etwas Getragenes, was noch besser auf das Lied und auf den Austausch, auf die Durchlässigkeit und das Gemeinsame konzentrieren lässt. Der Raum hat auch etwas Beschützendes. Es ist ja ein geschlossener Raum, in dem ich mich sozusagen heimisch fühle. Das ist ganz wichtig fürs Singen.

DOMRADIO: Auch liturgische Gesänge im Gottesdienst sind ein Thema in Ihrem Buch "Die Philosophie des Singens". Wann haben Sie zum ersten Mal liturgische Gesänge erlebt?

Hesse: Ich bin früher sehr regelmäßig in die Kirche gegangen, da wurde natürlich gesungen. Auch mein Vater war jemand, der sehr viel gesungen hat. Er hat früher während seines Studiums im Bach-Chor gesungen, und wir haben auch zu Hause gesungen. Das hat dazu geführt, dass die Kirchenlieder eine besondere Rolle spielten, weniger in einem Glaubenszusammenhang, sondern mehr in einem musikalischen Zusammenhang. Mir persönlich hat das als Kind immer richtig viel Spaß gemacht. Ich erinnere mich daran, dass es mir manchmal auffiel, wenn andere nicht so richtig singen konnten. Aber die Gemeinschaft in diesem Lobgesang war immer etwas, wo ich das Gefühl hatte: Okay, das ist dann so. 

DOMRADIO: Welche besondere Tradition steckt hinter den liturgischen Gesängen? 

Hesse: Ja, das ist der schöne Titel von Joseph Anton Villa in der "Philosophie des Singens". Er spricht über das Psalmodieren, also wie Psalme gesungen werden. Ich finde, es ist ein sehr spannender Beitrag. Er sagt, idealerweise stehen sich die Sängerinnen und Sänger im Chor gegenüber. Die Psalmen werden ja auf einen einzigen Ton gesungen, immer auf denselben, und dadurch entsteht eine Art Wechselgesang. Es hat etwas Dialogisches. Es geht einerseits um den Dialog mit Gott, aber auch um den Dialog untereinander und um den Dialog mit mir selber.

DOMRADIO: Das ist auch die Rolle, die Psalmen speziell bei solchen kirchlichen Gesängen haben, oder?

Hesse: Genau, die Psalmen drücken auch eine große Emotionalität aus. Da geht es immer um sehr emotionale Themen, und die sind gleichzeitig auch Lobpreisung. Aber dieser Wechselgesang stellt diese doppelte Verbindung her.

DOMRADIO: Jetzt haben wir vom Singen gesprochen. Was ist mit der Stille - hat die auch eine Bedeutung beim Singen?

Hesse: Die Stille ist ganz bedeutend. Ohne die Stille würden wir kein Musikstück oder Lied singen können. Die Stille ist Bestandteil des Singens, etwa beim Atemholen. Und sie hat musikalisch Bedeutung, weil sie eine Taktgebung ist. Sie hat auch im übertragenen Sinn oder auf einer spirituellen Ebene eine große Bedeutung. Denn nur wenn ich in die Stille gehe, kann ich mir auch selber zuhören. Und das ist ein wesentliches Element, um die eigene Stimme kennenzulernen und im Gesang die Erfüllung zu finden: Neben der Freude ein Zuhören in mich, aber auch ein Zuhören auf die anderen.

DOMRADIO: Apropos Stille, die stille Nacht steht vor der Tür. Wissen Sie schon, was Sie an Weihnachten singen werden?

Hesse: Das ist eine schöne Frage. Ich werde zu meiner italienischen Familie fahren. Da es bei uns einige Musiker gibt, ist es Tradition, gemeinsam zu singen und zu musizieren. Einer meiner Söhne wird singen, einer wird Bass spielen. 

Das Gespräch führte Hilde Regeniter. 


Quelle:
DR
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