Saliya Kahawatte über sein "Blind Date mit dem Leben"

"Dann fragen die Leute einen Blinden nach dem Weg"

Mit 15 Jahren gesagt zu bekommen, dass man bald erblinden wird, ist hart. Saliya Kahawatte fängt trotzdem eine Lehre in der Hotellerie an - und über 15 Jahre lang merkt niemand, dass er nicht einmal die Zwiebeln auf dem Schneidebrett sehen kann.

Tabletts tragen ohne etwas zu sehen? Für Saliya Kahawatte kein Problem mehr / © Wisiel  (shutterstock)
Tabletts tragen ohne etwas zu sehen? Für Saliya Kahawatte kein Problem mehr / © Wisiel ( shutterstock )

DOMRADIO.DE: Wie kann man eine Lehre in einem Hotel absolvieren, ohne, dass jemand merkt, dass man fast nichts sieht?

Saliya Kahawatte (Unternehmer und Autor): Es war natürlich eine große Herausforderung, mich dieser Aufgabe zu stellen. Natürlich gab es auch immer wieder Menschen, die gesagt haben: Sag mal, was machst du denn da? Und wieso bist du mit der Nase fast auf dem Zwiebel-Schneidebrett? Wieso tippst du alle Artikelnummern in die Kasse ein ohne die abzulesen? Ich hatte sie natürlich alle im Kopf.

Oder: Wieso deckst du deine Tische so kreuz und quer ein? Das musst du doch sehen, dass das nicht alles symmetrisch ist. Ich habe es natürlich nicht gesehen. Es gab immer wieder Menschen, die mich darauf angesprochen haben nach dem Motto "Erzähl doch mal, was ist denn hier los?" Ich hab mich immer ein bisschen dagegen gesträubt, wirklich zu sagen, was mit mir ist. Mit dem Ziel, irgendwie durch diese Ausbildung zu kommen.

DOMRADIO.DE: Musste man da auch mit ein paar kleineren Notlügen arbeiten?

Kahawatte: Ich sag's mal so: Es gibt schwarze und weiße Lügen. Wenn man lügt und jemand kommt dabei zu Schaden - oder sogar noch Schlimmeres - dann ist das eine schwarze Lüge. Und ich habe ja immer nur improvisiert, um mich selbst zu schützen. Ich wollte eigentlich nur im ersten Arbeitsmarkt arbeiten und mein Geld verdienen. Ich denke, das ist eines jedes Menschen Recht und deswegen bitte ich da, wie soll ich sagen, ein bisschen um Vergebung, dass ich da sehr vorschnell war. Aber ich glaube, es war okay so.

DOMRADIO.DE: Haben Sie sich bei manchen Aufgaben Dinge einfallen lassen, um Ihre Einschränkung zu verstecken?

Kahawatte: Ja, natürlich. Ich war sehr gut darin, mich rauszureden. Ich sage mal, dem Intelligenten fällt es recht leicht, sich etwas dumm zu stellen. Umgekehrt ist das deutlich schwieriger. Ich bin ja nun Hamburger und schnacken konnte ich schon immer ganz gut. Von daher habe ich damit gelebt, dass ich manchmal ein bisschen die Rolle des etwas Trotteligen und Dummen übernommen habe. Einfach nur, um diese Ausbildung irgendwie zu schaffen.

DOMRADIO.DE: Wenn Sie beispielsweise im Hotel dafür zuständig waren, die Gläser zu spülen, haben Sie nicht gesehen, ob das Glas sauber war, oder nicht. Haben Sie es dann einfach nochmal gespült?

Kahawatte: Ich habe auch drei oder viermal gespült, bis ich am Ende gemerkt habe, dass man auch am Klang eines Glases hören kann, ob es sauber ist oder nicht. Dafür braucht man nicht die Augen. Als Kellner hat man immer einen Kugelschreiber dabei. Damit habe ich leicht gegen die Gläser geklopft. Da kann man am Klang hören, ob es richtig poliert ist, oder nicht. So bin ich am Ende zu qualitativ gleichen Ergebnissen gekommen, wie meine sehenden Kollegen. Ich bin halt einen anderen Weg gegangen.

DOMRADIO.DE: Wenn man mit 15 erfährt, dass man blind wird, ist das ein harter Schlag, der das ganze Leben verändert. Wie haben Sie es trotzdem geschafft, ihren Schulabschluss zu machen?

Kahawatte: Als ich mit 15 diese Nachricht bekommen habe, dass ich erblinden werde - beziehungsweise, fast erblinden werde, ich habe ja noch einen kleinen Sehrest gehabt - und auf eine behindertengerechte Schule gehen sollte, die Blindenschrift lernen sollte und so weiter - das ist ein Schlag ins Gesicht. Ich durfte nicht mehr mit dem Skateboard fahren, kein Fußball mehr spielen, kein BMX-Rad mehr fahren.

Mein normales Teenagerleben sollte ich damals eigentlich an den Nagel hängen und einfach anders leben, entsprechend meiner Behinderung. Das war für mich nicht einfach. Ich bin von Haus aus eigentlich ein Draufgänger und ich lebe gerne voll drauf los. Wenn man dann so ausgebremst wird, ist das hart. Ich war damals auf dem Gymnasium. Ich wollte mein Abitur machen.

Ich hatte es mir auch in den Kopf gesetzt, der sehenden Welt zu zeigen: So, jetzt erst recht. Ich zeige euch, dass das geht. Und wenn ihr nicht daran glaubt, ist mir das auch egal. Glaubt, an was ihr möchtet. Ich glaube erst mal an mich selbst. Es ist die einzige Religion, die mich weiterbringt und jetzt mache ich das und zeige euch, wie das läuft. Es hat auch geklappt.

DOMRADIO.DE: Was hat Ihnen in der Zeit nach der Diagnose Kraft gegeben?

Kahawatte: Eine Religion hatte ich damals nicht so. Oder, ich hatte nicht den Zugang zu Religion. Natürlich habe ich einen Zugang zum Glauben gehabt. Aber ich habe einfach gemerkt, dass ich damals wirklich nur an mich selber glauben musste. Denn es konnte mir niemand anderes sagen, wie ich es hätte besser machen können.

Die Schulbehörde sagt: Das geht nicht. Die Lehrer sagen: Das geht nicht. Die Ärzte sagen: Das wird eh nichts. Die Eltern sagen: Was sollen wir jetzt machen? Die Spezialisten sagen, dass es nicht klappt. Also, Sohnemann, mach, was man dir sagt. Ich habe gesagt: Die können mir alle sonst was erzählen. Die sind alle nicht betroffen.

Ist auch nicht so einfach, wenn man so was mit 15 artikuliert. Dann wird man schnell abgestempelt als "Der Junge ist vielleicht nicht ganz dicht im Kopf. Vielleicht hat der noch ein anderes Problem." Es ist ja auch ein bisschen Deutschland, wenn man gegen den Strich bürstet.

Aber am Ende war ich sehr auf mich allein gestellt und habe es auch mit mir selbst ausgeamcht. Deswegen war damals der einzige Glaube, der mir blieb, der Glaube an mich und meine Fähigkeiten.

DOMRADIO.DE: Haben Sie die Blindenschrift gelernt?

Kahawatte: Nein, ich habe sie nicht gelernt. Wie auch? Ich war ja nie auf einer Blindenschule. Ich habe natürlich später irgendwann, als ich im Studium war, ein Notebook mit Sprachausgabe bekommen. Heute gibt's ja die tollste Technik, die hatte ich damals nicht.

In den Achtzigern gab's das nicht. Da gab's nur eine Lupe, die so groß war, wie ein Glasbaustein. Und damit musste man sich dann irgendwie durch ein Reclam-Heft durchquälen. Das war alles andere als lustig. Und es dauerte auch viel zu lang.

DOMRADIO.DE: Wann war der Moment, in dem Sie gemerkt haben: Ich kann so nicht weitermachen und diese Lüge aufrecht erhalten?

Kahawatte: Um ehrlich zu sein hatte ich damals schon die leise Einsicht, dass das irgendwann an Grenzen stoßen wird. Das war mir damals schon klar. Es war mir nicht klar, dass ich es so lange durchziehen würde. Das Etappenziel, das Abitur auf der Regelschule zu schaffen, war natürlich ein innerer Sieg, dass ich es allen gezeigt habe, dass das klappt - allen Widerständen zum Trotz. Leute, ich hab's euch gezeigt.

Natürlich waren sie auch alle ein bisschen fassungslos und schockiert, dass ich das hinbekommen habe. Als ich dann gesagt habe, jetzt gehe ich in die Hotellerie, da haben die Leute gesagt: Der hat eine Vollmeise. Das kann nicht klappen. Ich war natürlich der Meinung: Jetzt hast du das Abi geschafft, dann schaffst du auch deine Ausbildung in der Hotellerie.

Dass das am Ende so schnell so schwierig werden würde, das hätte ich mir damals nicht vorgestellt. Ich dachte, arbeiten in einem Hotel, das ist Bier zapfen und Teller tragen. Das wirst du schon hinbekommen. Vielleicht bin ich auch von Haus aus ein bisschen zuversichtlich. Deswegen bin ich da erst mal reingerutscht. Es war nicht einfach, aber es hat ja auch wieder geklappt.

DOMRADIO.DE: Sie haben ihre Lebensgeschichte in einem Buch aufgeschrieben, das 2009 veröffentlicht wurde. "Mein Blind Date mit dem Leben" lautet der Titel. Wie war das für Sie, der Welt so zu zeigen, dass Sie jahrelang etwas verschwiegen haben?

Kahawatte: Dass ich meine eigene Lebenslüge und das, was mit mir wirklich los war, so lange in mir getragen habe, hat mich natürlich innterlich aufgefressen. Es hat mich in die Alkohol-, Drogen- und Medikamentensucht gebracht. Und am Ende in die geschlossene Psychiatrie. Um es auf den Punkt zu bringen: Ich bin am Ende an meiner Lebenslüge zerbrochen und gescheitert.

Irgendwann habe ich dann gesagt: Jetzt werde ich mal studieren. Nach meinem Studium habe ich beschlossen, offen mit meiner Behinderung umzugehen. Erst habe ich sie verschwiegen. Dann ging es. Dann habe ich sie offengelegt und ich habe 250 Bewerbungen geschrieben und bekam nur Ablehnung. Einen schwerbehinderten Menschen wollte damals niemand einstellen. Zumindest war das meine Wahrnehmung.

Ich bin abgerutscht in Hartz IV und wollte aus meiner Behinderung heraus ein Geschäftskonzept entwickeln. Das war damals mein Ziel. Ich wollte Schriftsteller, Personal Coach und Vortragsredner werden. Eine Sache habe ich mir gesagt: Du musst anders mit deiner Behinderung umgehen. Du musst sie veröffentlichen - nicht nur in deinen Bewerbungen.

Deswegen habe ich meine Geschichte aufgeschrieben. So wollte ich den Menschen sagen: Das ist meine Geschichte, jetzt könnt ihr sie lesen. Jetzt möchte ich mit euch darüber ins Gespräch gehen. Das war das Ziel.

DOMRADIO.DE: Helfen Sie so auch heute den Menschen? Geben Sie jemandem, der vielleicht in einer ähnlichen Situation ist, als Personal Coach oder auch in einer anderen Position, Tipps?

Kahawatte: Ich habe aus meinem Handicap heraus ein Geschäftskonzept entwickelt. Ich helfe Menschen in schwierigen Situationen weiterzukommen. Und ich helfe natürlich auch heute Unternehmen. Unternehmen bestehen ja aus Menschen. Jedes Unternehmen kommt an einen Punkt, an dem Veränderung stattfindet.

Und da kann es sein, dass das Unternehmen sagt: Wir holen jetzt keinen theoretischen Trainer, sondern jemanden, der wirklich Praxiserfahrung hat und mit Veränderungen umgeht und uns das tagtäglich beweist. Dann holen die Leute tatsächlich mich und fragen einen Blinden nach dem Weg. Das ist so.

DOMRADIO.DE: Kostja Ullmann hat sie in dem Film "Mein Blind Date mit dem Leben" dargestellt. Der Film ist 2017 rausgekommen und war sehr erfolgreich. Wie haben Sie ihn darauf vorbereitet, einen Blinden zu spielen?

Kahawatte: Ich muss erst vorwegschicken: Kostja hat die Rolle grandios gespielt. Vielleicht lag es auch an meiner guten Vorbereitung. Wir haben uns drei Wochen wirklich intensiv zusammengesetzt. Er hat eine sogenannte Simulationsbrille bekommen, die ihn die Welt so erfahren lässt, wie ich sie sehe. Wir haben uns ein Fünf-Sterne-Hotel in Hamburg gesucht und haben dort Zwiebeln geschnitten, Betten gemacht, Cocktails gemixt, Zimmer gesaugt, Tische eingedeckt.

Das war am Anfang nicht einfach für ihn. Am Ende hat er aber dieselben Wege oder Möglichkeiten entdeckt, nonvisuell im Hotel zu arbeiten. Er hat es mit der selben Strategie hinbekommen wie ich. Dann war er am Ende auch fit für die Rolle. Im Kinofilm selbst hat er dann Kontaktlinsen getragen, die ihn diese Rolle haben authentisch spielen lassen.

DOMRADIO.DE: Die Hotelbranche ist nur einer von vielen Jobs, in denen es Menschen mit einer Sehbehinderung kaum möglich ist, zu arbeiten. Könnte da Ihrer Meinung nach etwas dran geändert werden?

Kahawatte: Ich würde den Konjunktiv II weglassen. Es muss sich was ändern. Ich bin der Meinung, dass über Inklusion genug geredet und geschwafelt wurde. Jetzt müssen Taten folgen. Wir leben in einer hochkomplexen Welt. Wir beklagen uns über Fachkräftemangel, gerade die Hotellerie.

Wenn man da Menschen mit Handicap einfach außen vor lässt oder denen nicht mal eine Chance gibt, weil sich jemand gar nicht vorstellen kann, dass das klappt - mit der Einstellung kommen wir nicht weiter. Dann wären wir nicht zum Mond geflogen und Columbus hätte auch nie Amerika entdeckt. Man sollte immer an die Menschen glauben und fragen: Was kann der Mensch eigentlich? Und was sind die Ziele? Und ist das realistisch?

DOMRADIO.DE: Das ist eine sehr lebensbejahende und positive Einstellung.

Kahawatte: Ja. Aber ich kann ja nicht über Selbstmotivation sprechen. Ich muss sie leben. Dann glaubt man mir das auch.

Das Interview führte Katharina Geiger.


Saliya Kahawatte / © Markus Wissmann  (shutterstock)

Kostja Ullmann  / © Rene Teichmann  (shutterstock)
Quelle:
DR
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