Christen im Irak richten klare Erwartungen an neue Abgeordnete

Es geht um Sicherheit und Rechte

Nach den irakischen Parlamentswahlen richtet die christliche Minderheit klare Erwartungen an die neuen Abgeordneten. Es geht ihnen um Land, Sicherheit und Rechte. Denn ihre Lage ist heikel. Viele denken daran, das Land zu verlassen.

Autor/in:
Ludger Möllers
Vier Männer, chaldäische Christen, warten an einem großen Kreuz an einer Straße auf die Durchfahrt von Papst Franziskus nach Erbil am 7. März 2021 in Karamless, Irak. / © Jean-Matthieu Gautier (KNA)
Vier Männer, chaldäische Christen, warten an einem großen Kreuz an einer Straße auf die Durchfahrt von Papst Franziskus nach Erbil am 7. März 2021 in Karamless, Irak. / © Jean-Matthieu Gautier ( KNA )

Kirchen- und Gemeindevertreter im Irak fordern nach den jüngsten Wahlen unter anderem die Abschaffung diskriminierender Gesetze und eine unabhängige politische Vertretung. Zudem verlangen sie Schutz vor Landraub durch Milizen sowie Sicherheitsstrukturen, die von örtlichen Bewohnern getragen werden anstatt von bewaffneten Gruppen.

Weiter verlangen sie eine Reform von Schulbüchern, Entwicklungsprogramme für christlich geprägte Regionen und Maßnahmen gegen die Vereinnahmung der christlichen Quotenmandate durch größere Parteien oder Milizen. Ohne konkrete Taten, warnen sie, drohe der jahrtausendealten Gemeinschaft endgültig der Verlust ihrer Heimat.

Eine Wahl, deren Ausgang noch offen ist

Bei der Parlamentswahl hat zwar die Liste von Ministerpräsident Mohammed Schia al-Sudani die meisten Stimmen erhalten, doch ist noch keineswegs sicher, ob er im Amt bleiben wird. Die Wahlkommission sieht sein Bündnis vorne, doch keine Kraft verfügt über eine eigene Mehrheit. 

Die kommenden Wochen - womöglich Monate - werden deshalb von zähen Verhandlungen geprägt sein: Schiitische, sunnitische und kurdische Parteien müssen eine Regierungskoalition bilden und die zentralen Ministerposten verteilen. Die vergleichsweise hohe Wahlbeteiligung von gut 56 Prozent, ein deutlicher Sprung gegenüber dem historischen Tiefstand von 41 Prozent bei der Wahl vor vier Jahren, hat zwar überrascht, ändert aber nichts an der politischen Unsicherheit.

Erstkommunionkinder in Karakosch, Irak / © Jean-Matthieu Gautier (KNA)
Erstkommunionkinder in Karakosch, Irak / © Jean-Matthieu Gautier ( KNA )

Die fünf für Christen reservierten Quotensitze im irakischen Parlament sollen eine unabhängige Vertretung der Minderheit garantieren. Praktisch jedoch werden sie seit Jahren von größeren Parteien und Milizen vereinnahmt: Kandidaten, die christliche Mandate gewinnen, verdanken ihre Stimmen oft nicht christlichen Wählerinnen und Wählern, sondern parteipolitisch mobilisierten schiitischen oder kurdischen Stimmen.

Besonders die Iran-nahe Babylon-Bewegung von Rayan al-Kildani hat mehrfach mehrere dieser Sitze besetzt - trotz einer weitgehend nicht-christlichen Wählerbasis. Kirchenvertreter sprechen deshalb von einer "politischen Entführung" der christlichen Stimme und fordern eine Reform des Systems oder neue Mechanismen, die wirklich garantieren, dass christliche Abgeordnete die Anliegen ihrer eigenen Gemeinschaft vertreten. 

Christen zwischen Erwartung und Erschöpfung

Vor diesem Hintergrund blicken die christlichen Gemeinden des Landes mit einer Mischung aus Hoffnung und tiefem Misstrauen nach Bagdad. Während Sudanis Anhänger seinen Wahlerfolg bereits feiern, formuliert die christliche Minderheit Erwartungen, die weit über parteipolitische Fragen hinausgehen. Für sie ist entscheidend, ob dieses Parlament ihre Existenz sichern kann - oder ob es tatenlos zusieht, wie eine der ältesten christlichen Gemeinschaften der Welt weiter schrumpft.

Kardinal Sakos Forderungen

Kardinal Louis Raphael I Sako, Patriarch der chaldäisch-katholischen Kirche und Erzbischof von Bagdad (Irak) / © Harald Oppitz (KNA)
Kardinal Louis Raphael I Sako, Patriarch der chaldäisch-katholischen Kirche und Erzbischof von Bagdad (Irak) / © Harald Oppitz ( KNA )

Kardinal Louis Raphael Sako, Patriarch der chaldäischen Kirche, sparte nach der Wahl nicht mit deutlichen Worten. Die irakischen Christen, so erinnerte er, hätten "trotz ihrer jahrtausendealten Zivilisationsgeschichte" Entführungen, Morde, Vertreibungen und Marginalisierung erlebt. 

"Ein Drittel von ihnen wurde zur Emigration gezwungen", sagte er, "auf der Suche nach besseren Bedingungen." Ihre Existenz bleibe bedroht, "wenn Ausgrenzung weitergeht und wenn die Regierung uns nicht durch Taten zeigt, dass wir gleichberechtigte Bürger sind - und nicht nur durch freundliche Worte".

Sako knüpft daran konkrete Erwartungen: Die neue Regierung müsse diskriminierende Gesetze aufheben, allen voran das Personenstandsgesetz von 2024, das nach Ansicht der Kirchen "grundlegende Freiheiten verletzt". Er verlangt außerdem eine "Revision der schulischen Lehrpläne, um jede Sprache zu entfernen, die Minderheiten verletzt oder herabwürdigt".

Besonders klar ist seine Forderung im Bereich Sicherheit: "Milizen müssen aus unseren Städten abgezogen werden. Die Sicherheit muss in die Hände lokaler, gut ausgebildeter Bewohner übergehen." 

Um politische Unabhängigkeit zu stärken, schlägt er die Gründung eines "unabhängigen christlichen Rates" vor, der Chaldäer, Assyrer, Syrer und unabhängige Experten umfasst - ausdrücklich "ohne Beteiligung von Klerikern".

Uni-Kanzler Shamasha: "Unsere Geduld ist aufgebraucht"

Aus der christlichen Zivilgesellschaft kommen ähnliche Töne. Karam Shamasha, Kanzler der Katholischen Universität Erbil und chaldäisch-katholischer Pfarrer in Telskuf in der Ninive-Ebene, spricht gegenüber der Katholischen Nachrichten-Agentur von einer Gemeinschaft, "die müde und erschöpft ist, aber immer noch hofft". 

Christen im Irak: Von jeher nur eine religiöse Minderheit, heute bedroht und verfolgt (DBK)
Christen im Irak: Von jeher nur eine religiöse Minderheit, heute bedroht und verfolgt / ( DBK )

Viele Christen seien es leid, "als politisches Symbol benutzt zu werden, während ihre elementaren Bedürfnisse verfallen". Seine Worte sind deutlich: "Wir verlieren unser Land, unsere Rechte und unsere Hoffnung."

Shamasha beschreibt schwere strukturelle Probleme: "Wir erleben die systematische Beschlagnahmung unseres Landes - durch Milizen, mächtige Gruppen oder Einzelpersonen." Diese Enteignungen seien "kein Zufall, sondern Teil eines Machtspiels". Die christlichen Quotenmandate im Parlament nennt er "Stimmen ohne Stimme": "Sie werden von großen Parteien gesteuert, nicht von uns."

Karam Shamasha

"Die Zeit der Ausreden ist vorbei. Unsere Geduld ist aufgebraucht."

Er fordert eine Neuausrichtung der Politik: "Wenn dieses Parlament uns wirklich schützen will, muss es unsere Stimme hörbar machen. Keine Entscheidungen mehr über uns ohne uns." Besonders wichtig sei für ihn, dass die Abgeordneten nicht länger wegsehen: "Die Zeit der Ausreden ist vorbei. Unsere Geduld ist aufgebraucht."

Shamasha beschreibt die Lage als strukturell gefährlich: "Unsere Sitze im Parlament sind Quoten ohne Macht - sie werden von großen Parteien gesteuert, nicht von uns." Er fordert deshalb ein Parlament, "das endlich den Rechtsstaat schützt". Dazu gehöre eine starke parlamentarische Kommission gegen Landraub, aber auch ein Vetorecht gegen Gesetze, die Minderheitenrechte verletzen. 

Und er mahnt: "Wenn dieses Parlament uns wirklich schützen will, muss es unsere Stimme hörbar machen. Keine Entscheidungen mehr über uns ohne uns." Für ihn steht fest, dass nur konkrete Reformen Vertrauen zurückbringen können: "Die Zeit der Ausreden ist vorbei. Unsere Geduld ist aufgebraucht."

"Wenn uns das Parlament nicht schützt ..."

Auch in der kurdischen Region, wo viele Christen vergleichsweise sicher leben, ist die Erwartung an Bagdad groß. Pfarrer Samir Yousif Al-Khoury aus Enishke an der irakisch-türkischen Grenze betont im Gespräch mit der Katholischen Nachrichten-Agentur: "Wir erwarten, dass die neuen Abgeordneten sich ernsthaft den Problemen der Christen widmen - Landkonflikten, Arbeitslosigkeit, verzögerten Gehältern." Seine Gemeinde erlebe seit Jahren, "wie politische Versprechen kommen und gehen, aber unsere Sorgen bleiben". 

Der chaldäisch-katholische Geistliche verweist besonders auf das Personenstandsrecht, das christliche Familien bedrohe: "Dass ein christlicher Ehepartner und die Kinder automatisch dem Islam zugerechnet werden können, ist eine grobe Ungerechtigkeit." Kurdistan habe dieses Problem gelöst, sagt er, "aber Bagdad muss nachziehen".

Pfarrer Samir Yousif Al-Khoury

"Wenn das Parlament uns nicht schützt, wird es uns bald gar nicht mehr geben."

Samir sieht eine gefährliche Dynamik: "Unsere Menschen brauchen Stabilität, Sicherheit, Respekt - im Alltag und im Gesetz." Ohne dies werde die Abwanderung weitergehen. "Wenn das Parlament uns nicht schützt, wird es uns bald gar nicht mehr geben. Viele denken ans Weggehen, das höre ich jede Woche."

Ein fragiles politisches Klima

Politische Beobachter im Irak erinnern daran, dass das Schicksal der Minderheiten eng an das politische Klima gebunden ist. Immer dann seien Christen besonders unter Druck geraten, wenn konfessionelle Spannungen zugenommen hätten. Sollte der frühere Premier Nuri al-Maliki versuchen, Sudani im Parlament auszumanövrieren, könnte das Land erneut in eine Phase politischer Verhärtung gleiten - mit potenziell gefährlichen Folgen für Minderheiten.

Kardinal Sako warnt, dass die christliche Gemeinschaft angesichts der Abwanderung kaum ein weiteres Krisenjahr verkraften könne. "Wir müssen alles tun", sagt er, "um die Christen auf ihrem Land zu halten, ihre Sprache und ihre Zivilisation zu bewahren."

Der Schatten von al-Kildani

Über allem schwebt ein Konflikt, der die christliche Gemeinschaft seit Jahren spaltet und einschüchtert: der Einfluss der Babylon-Bewegung unter ihrem Anführer Rayan al-Kildani. Die Bewegung tritt als christliche Kraft auf, wird jedoch maßgeblich von Iran unterstützt. 

Irak - Mossul im Juli 2022 / ©  Ismael Adnan (dpa)
Irak - Mossul im Juli 2022 / © Ismael Adnan ( dpa )

Ihr bewaffneter Arm, die Babylon-Brigaden, rekrutiert größtenteils aus schiitischen Gebieten Bagdads und des Südens. Immer wieder werden sie beschuldigt, Land in christlichen Städten der Ninive-Ebene zu beschlagnahmen und Bewohner zu bedrohen.

2019 wurde Rayan al-Kildani vom US-Finanzministerium wegen "Menschenrechtsverletzungen, Korruption und der Verfolgung religiöser Minderheiten" sanktioniert. 2023 eskalierte ein offener Konflikt zwischen ihm und Patriarch Sako: Beide warfen sich gegenseitig vor, christliche Grundstücke illegal an sich gerissen zu haben.

Für viele Christinnen und Christen ist al-Kildani zum Symbol des Missbrauchs ihrer Gemeinschaft geworden - ein warnendes Beispiel dafür, wie Milizen politische Strukturen unterwandern und Minderheitenmandate für eigene Zwecke besetzen. Der Schatten dieses Konflikts liegt schwer über den Erwartungen an das neue Parlament.

Ein letztes Zeitfenster

Was Christinnen und Christen im Irak jetzt erwarten, ist kein politischer Luxus, sondern eine Überlebensfrage. Ein Parlament, das Milizen begrenzt, Land schützt und Gleichberechtigung durchsetzt, könnte das Vertrauen einer schrumpfenden Gemeinschaft zurückgewinnen. Ein Parlament, das untätig bleibt, riskiert hingegen, dass sich die christliche Präsenz im Irak weiter auflöst. 

"Wenn dieses Parlament den Mut hat, uns zu schützen", sagt Shamasha, "können wir bleiben." Wenn nicht, so warnt Pfarrer Samir, "wird es uns bald nicht mehr geben." Damit hängt die Zukunft der Christen im Irak nicht nur von politischen Mehrheiten ab - sondern davon, ob der Staat ihnen endlich beweist, dass sie ein Teil seiner Zukunft sind.

Quelle:
KNA