Chorverband sieht Singen in Deutschland im Aufwind

"Die Chor-Szene ist so vital wie lange nicht mehr"

Der Deutsche Chorverband sieht das Singen in Deutschland wieder im Aufwind. "Die Chor-Szene ist so vital wie lange nicht mehr", sagt Geschäftsführerin Veronika Petzold im Interview. Familien empfiehlt sie, Rituale des Singens zu begründen.

Notenblatt eines Chorsängers / © Jörg Loeffke (KNA)
Notenblatt eines Chorsängers / © Jörg Loeffke ( KNA )

KNA: Frau Petzold, muss man als Geschäftsführerin des Deutschen Chorverbandes selber im Chor sein?

Petzold: Ich singe von Kindesbeinen an. Das gehört zu meinem Leben dazu. Derzeit bin ich in einem Kammerchor in Berlin.

KNA: Liegen Sie damit im Trend, oder gehören Sie zu einer aussterbenden Spezies?

Petzold: Das muss man, wie so vieles, differenziert betrachten. Das Singen erfreut sich in Deutschland wachsender Beliebtheit. Die Chor-Szene ist so vital wie lange nicht mehr. Dennoch verändern sich die Strukturen. Im Bereich des verbandlich organisierten Singens sind die Zahlen bei Chören und Chorsängern tatsächlich rückläufig.

KNA: Haben Sie da Zahlen?

Petzold: Bei den weltlichen Chören gab es laut Deutschem Musikrat zwischen 2015/2016 und dem Folgejahr einen Rückgang von 23.440 auf 22.000, bei den kirchlichen Chören von 35.600 auf 33.670. Bei den Mitgliedern blieb die Zahl der weltlichen Sänger mit rund 1,4 Millionen stabil, bei den kirchlichen sank sie aber von rund 749.000 auf 699.000.

KNA: Woran liegt das?

Petzold: Es zeigen sich Trends, die auch für Parteien, Kirchen und andere Vereine gelten: Immer weniger Menschen binden sich langfristig an solche Organisationen. Das liegt auch an veränderten Lebensumständen wie mehr Flexibilität im Berufsleben, veränderter Aufgabenteilung in Familien oder schlicht der Tatsache, dass Menschen nicht mehr so selbstverständlich an ihre Heimatorte und Traditionen gebunden sind.

Bei kirchlichen Chören kommt noch dazu, dass die Bindung an die Religionsgemeinschaften nachlässt und manche Bistümer und Landeskirchen auch an Kirchenmusikern sparen. Rückgänge gibt es auch in ländlichen Räumen, aus denen gerade jüngere Menschen wegziehen. Da brechen dann auch manche Strukturen zusammen, während in vielen Großstädten Chöre wieder aufblühen - einfach weil die Einwohnerzahl wächst.

KNA: Warum sprechen Sie dennoch von einer vitalen Chorszene?

Petzold: Weil die Lust am Singen in Deutschland spürbar zunimmt - nur eben in anderen Strukturen. Da gibt es eine regelrechte Trendwende.

KNA: Können Sie Beispiele nennen?

Petzold: Es gibt beispielsweise immer mehr zeitlich begrenzte Projektchöre: Sie nehmen sich etwa vor, ein bestimmtes Werk wie Händels "Messias" oder Orffs "Carmina Burana" aufzuführen und laden dann Interessenten ein, sich zu beteiligen. Schauen Sie sich außerdem die vielen neuen Mitmachformate an: Zehntausende gehen zum Weihnachtssingen in die Stadien, Tausende nehmen an Veranstaltungen wie dem Rudelsingen teil. Das Publikum wird zunehmend zum Hauptakteur, die Trennung zwischen aktiven Sängern und Zuhörern wird aufgehoben.

Da gibt es viele lustvolle Herangehensweisen. Das alles belebt die Szenerie und führt dann vielleicht zugleich dazu, dass sich feste Gruppen und Chöre bilden. Denn auf lange Sicht braucht man feste Strukturen, schon wegen Haftungsfragen oder Gema-Gebühren.

KNA: Singen galt in Deutschland lange als vorgestrig. Ändert sich das?

Petzold: Es ist noch nicht lange her, da galten das Singen und besonders deutsche Volkslieder als kitschig, verstaubt und reaktionär. Während Menschen anderer Länder ganz selbstverständlich Volkslieder zu Gehör brachten, kamen die Deutschen häufig nicht über die erste Zeile hinaus. Das hatte nicht zuletzt mit dem Missbrauch durch die Nationalsozialisten, aber auch mit dem Philosophen Theodor W. Adorno zu tun, der strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Singbewegung und Faschismus zu sehen meinte. Dieser sogenannte Adorno-Schock ist zum Glück überwunden. Das sieht man übrigens auch an manchen erfolgreichen Fernsehfilmen, die das Singen thematisieren: "Die Kinder des Monsieur Mathieu" hat da eine ganz wichtige Rolle gespielt. Aber auch das schwedische Musikfilm-Drama "Wie im Himmel".

KNA: Vermutlich muss man insbesondere bei der jüngeren Generation ansetzen...

Petzold: Es gibt sehr viele Initiativen, das Singen im Kindergarten und in der Grundschule wieder attraktiv zu machen. Dazu muss man natürlich auch die Pädagogen entsprechend ausbilden und ihnen Handwerkszeug vermitteln. Viele Jahre haben sie nur gelernt, theoretisch über Musik zu sprechen. Da war selbst die Volksschule im 19. Jahrhundert weiter. Inzwischen lernen Kindergärtner und Lehrer wieder verstärkt, wie man gemeinsam singen kann. Und für Chorleiter gibt es mittlerweile spezielle Ausbildungen.

KNA: Haben Sie einen Tipp für Familien, die in der Weihnachtszeit mal wieder singen wollen, aber nicht wissen, wie anfangen?

Petzold: Man kann natürlich gemeinsam in Gottesdienste gehen, wo die schönen alten Advents- und Weihnachtslieder erklingen. Aber das ist nicht jedermanns Sache. Wichtig ist es, mit den Kindern von klein auf zu singen und vielleicht auch Rituale zu begründen, etwa das Singen um den Adventskranz.

Von Christoph Arens


Quelle:
KNA
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